: Der nahe Wahnsinn
Hundertprozentig theatergeerdet: Der „Volksfilm der Volksbühne“ bleibt Schauspiel pur. Demnächst auf Arte
10 Tage Mecklenburg-Vorpommern mit der ganzen Familie. Grüne Wiesen, Bauernhöfe, Barbecues. Das muss ein Spaß gewesen sein. Nicht zuletzt für Frank Castorf, der dort „Dämonen“, seinen ersten Film, gedreht hat.
Pate gestanden hätten Russ Meyer, TV-Soaps und Dogma 95, erklärte der hochgestimmte Volksbühnen-Intendant vor der Premiere. Weil Harald Juhnke und andere Kunstfilmer so penetrant auf 16x9 abführen, habe man sich schließlich doch fürs Serienformat entschieden. Und darin allen Ernstes „Authentizität“ gesucht und gefunden.
Die Preview der TV-Koproduktion „Volksfilm der Volksbühne“ fand dann aber doch am Rosa-Luxemburg-Platz statt, wo die „Dämonen“-Bühnenfassung schon etliche Male in vierstündiger Überlänge, physischer Leibhaftigkeit und aus angemessener Entfernung zu betrachten war. Die Bearbeitung von Dostojewskis 1872er Schlüsselroman für das 20. Jahrhundert entfesselte dort, gepfercht in einen der Serienbungalows von Bert Neumann, eine Flut von Fragen nach Gott, Gewalt, Gerechtigkeit und neuen Menschen, deren womöglich nimmermüde Aktualität heftige Beklemmungen auslöst.
Daheim vom Sofa aus wird man den Intrigen des Terroristen Pjotr Werchowenski (Milan Peschel) und seines Jugendfreundes, des charmant am eigenen Verstand erkrankten Kinderschänders Nikolai Stawrogin (Martin Wuttke), am 12. Dezember auf Arte folgen können. Wer schon das Original schätzte, wird erst recht den Fernsehfilm lieben. Denn auch die Filmversion bleibt – obschon um Auto, Vieh und sehr viel Landschaft ergänzt – pures Schauspiel, offenbart aber zugleich, was oft im Theater schwer zu sehen ist: den komischen Wahnsinn aus nächster Nähe. Henry Hübchens Krähenfüße, Milan Peschels Saugnapfaugen, das gepuderte Näschen von Kathrin Angerer und der fein gekräuselte Spott um die Lippen von Silvia Rieger, zahllose Variationen der Fratze Mensch in den Gesichtern von Martin Wuttke, Herbert Fritsch und Jeanette Spassova – im Wunder Kino rücken sie in überwältigende Nähe und erfahren zugleich unheimliche Überhöhung.
In der vielleicht schönsten Szene begegnet der Hauslehrer Werchowenski – sorgenvoll, da im fortgeschrittenen Alter noch zur Heirat gezwungen – seiner früheren Schülerin Lisa Tuschina auf freiem Felde. Die Kamera (Andreas Höfer) schwenkt einfallslos, doch wirkungsvoll: Die beherzt „Mein Gott, was sind Sie alt geworden!“ plappernde Sophie Rois thront majestätisch hoch zu Ross auf der einen Seite, die sprachlose Geckenvisage Hübchens stiert von der anderen entgeistert zu ihr empor.
Als nach immer noch ausufernden 180 Minuten die Stars auf die Bühne stiegen und freundlich-verlegen im Applaus herumstanden, musste man sich erst mal nicht mehr ums kollektive Überlaufen des Ensembles samt Chef in neudeutsche Filmgeschäfte sorgen. Das Projekt „Volksfilm“ ist hundertprozentig theatergeerdet, das Spielfeld nach Norden auf Kornfelder ausgedehnt, und auch wenn im Mittelpunkt der Preview-Party ein edler Flügel stand, hat die Volksbühne sich keinen neuen Glamour erfinden müssen.
EVA BEHRENDT
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