: Gegen die Verlangsamung des Wahns
Herrenrunde im Thalia: Lesung und Gespräch mit Alexander Kluge und Christoph Schlingensief ■ Von Kristof Schreuf
Dieser Medien-Monolith macht fast alles allein. Er bleibt dabei umstellt von Haufen deutscher Filmgeschichte. Von Konkret über Spex bis Klaus Theweleit regen sich noch heute gerne einige über ihn auf. In den 80er Jahren hat er sich durch geschickte Ausnutzung der Mediengesetzgebung ein beträchtliches Sendekontingent für die privaten Fernsehsender gesichert. Seitdem sitzt er als großer Steuermann der Konversation im anti-pädagogischen Anti-Fersehen , ohne sich nach eigener Auskunft für Bilder zu interessieren. Ebenfalls im skurrilen eigenen Understatement macht er „immer wieder dasselbe“. „Dasselbe“ beinhaltet seit vierzig Jahren Filme, Fernsehsendungen und Bücher, die daherkommen wie offene Universitäten.
Bei diesem Schatz, der größer wird, statt gehoben zu werden, handelt es sich um das Werk von Ale-xander Kluge, der seit einiger Zeit dabei ist, eine Art Humboldt der Gegenwart zu werden. Denn Kluge erfindet Begriffe wie Peter Sloter-dijk, er ist ein Faktenkonsumfetischist wie Kleist einer war, und er mietet mit großer Geste diskursive Räume von Jürgen Habermas an. Kluge ist dabei weitgehend ein Lehrer, der ohne Schüler auskommt.
Lange nach der letzten Veröffentlichung hat er nun die zweibändige Chronik der Gefühle vorgelegt. Hier hat er disparateste Szenarios skizziert, Novellenstoffe auf ein paar Absätze eingedampft, psychologische Babeltürme aufgestellt und sich eine lockere Riesenarbeit gemacht. Mindestens finden sich unter diesen Erhebungen zur Befindlichkeit des Weltgeistes Anschlüsse zu einer „Bilanz des Jahrhunderts“, sowie tapfere Ausführungen über die „Unheimlichkeit der Zeit“. Selbstverständlich gibt es auch einiges zu dem „Versuch, einfach zu denken“. Kluge entwickelt dabei in etwa die Haltung eines Don Quichote, der keine Windmühlenflügel mehr braucht, um sich Burgen vorzustellen. Kritiker fühlen sich davon befremdet und düpiert.
In der „kalten“ , unbeirrbaren Diktion der Chronik fehlt es ihnen am Gefühl des Chronisten. Sie fordern das, was der Fernsehmacher vermissen lässt. Diese Einschätzung beruht auf einem Missverständnis: Kluge ist nicht nur Soziologe und Autor sondern auch einer der wenigen Menschen, die beim Zuhören unwirsch machen. So einer nervt. Viele Zuschreibungen passen auf ihn: Man kann ihn milde durchgeknallt finden. Es lässt sich aber auch aus einem Nachruf auf den Suhrkamp-Lektor und Mitherausgeber des Kursbuch, Karl Markus Michel, sinngemäß zitieren: „Die intellektuelle Leidenschaft dieses Freigeistes ist seine Lebensgefährtin: die Aufklärung.“ Man kann Kluge schließlich allein für etwas halten, als das sich Kultur sonst insgesamt darstellt: ein Einzelkämpfer-Netzwerk.
Für wen ist die Chronik geschrieben? Nicht nur für denjenigen, der in der Welt wie in einem Bildungs-Pool ein Bad nehmen möchte. Dafür aber sicher für jede und jeden, die oder der unendlich flanierend, endlos geistvoll und unaufhörlich trotzig gegen die Verlangsamung jeden Wahnsinns angeht. Das Ziel ist dabei, sich mit sich (und anderen) besser zu unterhalten. Und das ist ein ehrenwertes Ziel. Zu erreichen ist es, indem die Lesenden unterstellen, dass sich die Chronik der Gefühle nicht eignet, um einen autoritären Charakter zu stärken, hegemoniale Bilder weiter auszumalen oder marktbestimmende Links weiter anzuklicken.
Motto: nicht zu schnell nach dem Gebrauchswert der Lektüre fragen. Zum Beispiel, wenn davon zu lesen ist, wie die „Kriegsauslösung durch Depressive“ im Fall des ersten Weltkrieges vor sich gegangen ist. Denn das ist Literatur, die sich etwas vorgenommen hat. Da wirkt Christoph Schlingensief, der sich als der jüngere von zwei Feuerköpfen mit Kluge zusammen über die beiden Bände beugen wird, richtig passend.
heute, 21 Uhr, Thalia
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