: Moralismus ohne Moral
Die Diskussion findet ab jetzt wieder im Zuschauerraum statt: Seit einem Jahr arbeiten Tom Kühnel und Robert Schuster im Frankfurter Theater am Turm an ihrem Projekt „affirmatives Theater“. Mit dem Versuch, die Politik zurück ins Theater zu bringen, sind sie gescheitert. Doch ihr Scheitern hatte Stil
von FALK SCHREIBER
www.dastat.de ist eine, sagen wir mal: protestantische Website. Schwarze Schreibmaschinenschrift auf grauem Grund bietet fünf Links an: Allgemeines, Spielplan, Inszenierungen, Ensemble. Und Theorie. Unter letzterem Punkt findet man zwei Texte Soeren Voimas, des Autorenkollektivs, über dessen Zusammensetzung schon vor fast genau einem Jahr spekuliert wurde: im November 1999, bei der Neueröffnung des Theaters am Turm (TAT), jener traditionsschweren Frankfurter Avantgardebühne, von der aus Fassbinder in den 70er-Jahren die Gesellschaft und Tom Stromberg in den 90ern zumindest die Sehgewohnheiten verändern wollte. Die Regisseure Tom Kühnel und Robert Schuster sind auf jeden Fall Teil von Soeren Voima, auch der Schauspieler Christian Tschirner, wohl auch der Dramaturg Bernd Stegemann.
Wirklichkeitsforschung
Zwei Texte. Der eine, „Das TAT“, ist öde, beschreibt die Organisationsform des Theaters mit Choreograf William Forsythe als Intendanten und Tom Kühnel, 1971 in Cottbus, und Robert Schuster, 1970 in Meißen geboren, als künstlerischer Leitung. Der andere, „Die Gesellschaft des Theaters“, ist ebenfalls langweilig, will aber eine Art ästhetisch-politisches Programm Soeren Voimas entwerfen, ein Manifest des „affirmativen Theaters“, das am TAT seine Heimat gefunden haben soll. Die Wirklichkeit beschreiben, anstatt sie zu kritisieren, will dieses Theater: Die „Erforschung der Wirklichkeit ist affirmativ. Sie kritisiert nicht, sie dokumentiert“, lautet ein zentraler Satz. „Es geht uns darum, hypothetische Wahrheiten herzustellen, anhand deren dann überhaupt eine Diskussion wieder möglich wird. Die Diskussion muss aber der Zuschauer führen. Und die muss nicht für ihn auf der Bühne geführt werden“, präzisiert Stegemann. Was den vor einem Jahr geäußerten Befürchtungen, hier werde ein die gesellschaftlichen Ungerechtigkeiten bejahendes Theater installiert, den Wind aus den Segeln nimmt: Der kritische Impetus ist noch vorhanden, nur wird er nicht mehr vom Theater formuliert, sondern vom Publikum.
Bejahend wirkt das nicht, aber didaktisch. Und humorlos. Protestantisch. Nach den ersten Premieren, der Sprachcollage „Deutsch für Ausländer“, dem von Roland Schimmelpfennig, Marius von Mayenburg, Albert Ostermaier und Voima als Fortsetzungsdrama entworfenen „Welttheater“ und dem in Koproduktion mit der Berliner Schaubühne entstandenen Uno-Oratorium „Das Kontingent“, empfand Eva Corino in der Berliner Zeitung: „Nicht uninteressant, aber auch steril und besserwisserisch.“
Tatsächlich lässt sich eine immer stärkere Konzentration auf Bedeutung feststellen: „Das Primat liegt auf jeden Fall beim gesprochenen Wort“, stellt Schuster apodiktisch fest. Worte sind in diesem Konzept Träger von Inhalten, und Inhalte tragen die Stücke. Deswegen wirken Kühnel, Schuster und Stegemann im Gespräch so altmodisch, deswegen haftet ihrem Theater immer auch der Ruch des Reaktionären an. Schuster: „Ich glaube an die Konsequenzen von Handlung. Das ist ja im philosophischen Diskurs nicht mehr Usus, zu sagen, eine Handlung des Einzelnen hat eine Konsequenz.“ Das klingt rechthaberisch. Und das bedingt in letzter Konsequenz auch die Überschätzung der eigenen Mittel, den naiven Glauben, Realität sei medial darstellbar. „Es geht uns darum, diesen Punkt zu begreifen, dass man, wenn man Flasche sagt, auch Flasche meint, was ja nicht mehr so selbstverständlich ist.“
Umgekehrt heißt das dann eben auch, dass ein Hinterfragen dieser Mittel auf offener Bühne als selbstreflexive Spielerei abgelehnt wird: „Performance-Theater hat sich selbst überlebt, solange es nicht die Befreiung der Mittel aus dem Korsett der Handlung in einen zeitgemäßen Zusammenhang zurückführt, der jenseits ästhetischer und egomaner Spielerei zu suchen wäre“, heißt es im Manifest. Von der „Ver-Theaterwissenschaftlichung des Theaters durch Inszenierungen, die immer nur auf den einzelnen, zu ironisierenden Aspekt eines Vorgangs abzielen, aber nicht auf den Zusammenhang aller Vorgänge“, spricht Stegemann.
Schauspielhaus-Kopie?
Der Applaus von der falschen Seite blieb nicht aus. Kaum wurde im Frühjahr bekannt, dass zur Eröffnung der laufenden Spielzeit Frank-Patrick Steckel Tschechows „Möwe“ inszenieren solle, waren Stimmen zu hören, die lobten, dass das TAT nun wohl mehr wie das Frankfurter Schauspielhaus werden würde, wenn dort, wie befürchtet, unter der designierten Intendantin Elisabeth Schweeger das Medientheater ausbricht. Mehr wie das Schauspielhaus werden, das wollen Kühnel und Schuster aber gerade nicht. Zwei Jahre haben sie dort unter Intendant Peter Eschberg gearbeitet, und der Umzug ins TAT war auch ein Versuch, sich von den Zwängen des Stadttheaterbetriebs zu befreien. Was schwer zu verstehen ist, wo die Inszenierungen auf den ersten Blick nicht anders aussehen als Stadttheater.
„Europa“, die jüngste von Schuster eingerichtete Premiere, ist so ein Beispiel: eine zähe Sophokles/Euripides-Nachdichtung, die insbesondere während der ersten zwei Stunden die Antike in ein imaginäres Dramaturgen-Fin-de-Siècle verlegt, samt Innerlichkeit, Todessehnsucht und abgelebter Avantgardismen. Nicht uninteressant, aber im verzweifelten Bemühen um die Vermeidung eigener Positionen auch ohne jede Verstörung.
Die schlechte Presse des ersten Jahres geht den Regisseuren nahe. Trotzig zählen sie positive Besprechungen auf: 40 Prozent wohlwollend bei „Deutsch für Ausländer“, nahezu durchgängig lobend beim „Kontingent“. Und fast einhellige Ablehnung des Gesamtkonzepts: Da müssen die Spitzen nicht mal elegant gesetzt sein, da kann auch, wie unlängst in der FAZ, der Allgemeinplatz künstlerischer Differenzen zwischen Forsythe und Kühnel/Schuster bemüht werden, schon beginnen wieder Diskussionen um die Zukunft des TAT.
Vielleicht hat diese Ablehnung etwas mit enttäuschter Liebe zu tun. Denn so massiv hat sich die Ästhetik der beiden Regisseure gar nicht geändert, seit sie Mitte der Neunziger zu Wunderkindern ausgerufen worden waren. Ein wichtiges Element ihrer damaligen Inszenierungen war das Maskentheater, und manchmal mochte man glauben, hier leichthändige Verkleinerungen der großen Stoffe, „Antigone“, „Faust“ oder „Warten auf Godot“, gesehen zu haben. Durch die Lektüre von Soeren Voimas Manifest wird klar, dass das ein Missverständnis war: Die Masken, die auch am TAT noch zu Hause sind, betonen nicht etwa Oberflächlichkeit, sie verweisen einzig auf die Zeichenhaftigkeit des Dargestellten. Wobei Zeichen und Bezeichnetes in diesem Konzept immer noch ganz klar aufeinander bezogen sind: Die Stücke am TAT sollte man ebenso wie die älteren Inszenierungen Kühnels und Schusters als Modelle sehen.
„Niemand wird behaupten, ein Atom sähe so aus wie das Modell in der Physikstunde. Es sieht eigentlich gar nicht aus, und darum brauchen wir ein Modell: Erst in einem Modell wird das Unbeobachtbare für uns real, und wir können Aussagen darüber treffen“, heißt es dazu bei Soeren Voima. Durch das Atommodell sollen wir Physik verstehen lernen und durch ein Stück wie „Das Kontingent“ das Spannungsfeld von Gerechtigkeit und Gewalt: Was diese Inszenierung so beeindruckend machte, war weniger die Rückkehr der politischen Diskussion ins Theaterfoyer, die Gerhard Jörder in der Zeit ausgemacht haben wollte, es war der heilige Ernst, mit dem zwei Endzwanziger die Tauglichkeit von Zeichen behaupteten.
Askese statt Sinnlichkeit
Was nicht heißt, dass Theater im TAT langweilig sein muss. Es ist trocken und theorieschwer, das schon. Insbesondere „Das Kontingent“, eine recht deutliche Umschreibung von Brechts „Maßnahme“, betont den Modellcharakter so stark, dass Theater als sinnliche Wahrnehmung vollkommen zurücktritt hinter asketische Reflexion. Und doch gibt es Momente, an denen man feststellt, dass hier eben Theater gemacht wird und nicht nur Theorie: Der rasende Trash, in den das „Welttheater“ spätestens am Ende der zweiten Folge, irgendwo zwischen Splatter und Softporno, mündet. Die Buffo-Figur des Kadmos (Nicolas Rosat) in „Europa“, die den unerträglich hohen Ton der Fabel brechen könnte. Vor allem die Bühnenbilder Jan Pappelbaums, ein Nicht-Raum für „Deutsch für Ausländer“, ein roher Kasten, aus dem jederzeit ein Teufelchen springen könnte für das „Welttheater“, eine dem Zuschauer entgegenstürzende Ebene für „Europa“, nehmen den Stücken viel vom Seminarhaften, das dem TAT so häufig vorgeworfen wird.
Dass das Konzept der Affirmation tauglich ist für eine Renaissance der Politik im Theater, darf nach „Europa“ einmal mehr bezweifelt werden. Aber genauso wenig von der Hand zu weisen ist, dass hier eine Sprache gesucht wird, die im deutschen Theater derzeit ihresgleichen sucht, ernst, traurig und ziellos tastend, vielleicht dem Moralismus eines Thomas Ostermaier verwandt, nur ohne Moral. Wahrscheinlich ist das „affirmative Theater“ im Laufe des vergangenen Jahres gescheitert, aber wie es gescheitert ist, das hat Größe.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen