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Einmal für bekloppt erklärt – immer bekloppt

■ Rehabilitation nicht in Sicht: Ein Gutachter hält die Dr.-Heines-Klinik im Fall einer zu Unrecht festgehaltenen vermeintlich Kranken für unschuldig / „Das war halt so“

Es sieht nicht gut aus. Ihre Anwältin glaubt kaum, dass das Bremer Oberlandesgericht Vera Stein (Name von der Redaktion geändert) einen Anspruch auf Schadenersatz zuspricht. Für Vera Stein, die vor 20 Jahren für psychisch krank erklärt und zwei Jahre widerrechtlich in der Dr.-Heines-Klinik festgehalten wurde (die taz berichtete), kannte man damals keine besseren Behandlungsmethoden als die angewandten. Das ist das Fazit des Gutachters, der gestern in dem Prozess ausgesagt hat.

1977 wird Vera Stein von ihrem Vater in die Dr. Heines Klinik gebracht. Diagnose: Hebephrenie, eine Form der Schizophrenie. Tatsächlich, so argumentiert Vera Stein seit Jahren, und andere Gutachten geben ihr Recht, tatsächlich habe sie versucht, sich gegen ihren übermäßig autoritären Vater zu wehren. Der daraufhin organisiert, dass die aufmüpfige Tochter weggesperrt wird.

Alles in allem hat Vera Stein in fünf Psychiatrien durchlaufen. In der Dr.-Heines-Klinik bleibt sie zwei Jahre – gegen ihren Willen, obwohl sie zum Zeitpunkt der Einlieferung bereits volljährig ist. Sie bekommt 17 verschiedene Psychopharmaka in hohen Dosen. Mittel, die sie wegen ihrer Polioerkrankung nie hätte bekommen dürfen.

Nachdem Vera Stein der letzten Anstalt entkommen ist – eine Freundin hat sie auf eigene Haftung herausgeholt – verliert sie ihre Stimme und kann elf Jahre nicht sprechen. Inzwischen sitzt sie, die sich als Jugendliche von ihrer Kinderlähmung zu erholen begann, im Rollstuhl. Folge der Psychopharmaka, sagt Vera Stein und kann Fachliteratur dazu zitieren. Psychisch bedingt, sagt gestern der Gutachter auf dem Gerichtsflur. Er hat Vera Stein gestern das erste Mal gesehen. Sein Gutachten hat er anhand der Krankenakten erstellt. Einmal für bekloppt erklärt – immer für bekloppt gehalten?

Ihr Festhalten in der Klinik war rechtswidrig, so das Urteil des Bremer Landgerichts 1999. Nun will Vera Stein, inzwischen erwerbsunfähig, Schadenersatz. Die Dr. Heines-Klinik ist in die Berufung gegangen.

Vera Steins Krankheitsbild von 1977, so führt gestern der vom Oberlandesgericht bestellte Gutachter Prof. Gerhard Rudolf aus Münster aus, sei damals als solches noch nicht bekannt gewesen. Hebephrenie war es nicht. Aber „wahrscheinlich eine Reifungsphase, die krankheitswertig war“, so der Gutachter. „Krankheitswertig“ nach einem Katalog namens „International Classification of Deseases“, Ziffer F 91. Da gebe es die „normale“ pubertäre Rebellion, dann eine große Grauzone und schließlich Störungen, die „über dem Strich“ lägen. Dem Strich zur Psychose.

Vera Steins Symptome seien nicht so gewesen, dass sie „als Pubertätssymptome am Rande des Normalen“ hätten durchgehen können. Eine „Borderline-Störung“ nach des Gutachters Meinung, Ursachen in der frühen Kindheit, „Lebensalter und persönliche Reifung“ führen ein Stück weiter“, und Studien zeigten, dass mit dem 40. Lebensjahr die Störung weniger dramatisch wird. Voilà: Vera Stein ist 41 und offenkundig ungestört.

Die Medikamentengaben von damals, „Cocktails“, seien mitnichten zu hoch dosiert. Der Gutachter: „In den meisten Krankenhäusern herrschte damals ziemliches Durcheinander. Das war bei Heines nicht anders als im Krankenhaus X oder Y.“ Und: „Das war halt so.“ Auf die Argumente von Steins Anwältin, bereits damals sei in der Fachliteratur geschrieben worden, dass Psychopharmaka in rauhen Mengen bei solchen Störungen kaum helfen, zuckt der Mann nur die Schultern. Bis sich solche Erkenntnisse in der Praxis durchsetzten, so seine Erfahrung, dauere es bis zu zehn Jahren. Und ob die Medikamente bei einer Polioerkrankung zu Schäden führen, wisse er nicht. Erstens sei er da kein Fachmann, zweitens gebe es kaum solche Polio-Psycho-Fälle, und drittens habe er nochmal die Fachliteratur gewälzt und dort keine Hinweise gefunden.

Vera Stein unterbricht den Gutachter häufig. Wenn er von „recht auffälligem Verhalten“ spricht, sagt sie: „Ich habe mich gewehrt.“ Wenn er erklärt: „Sie war sehr unruhig, sie suchte nach etwas“, herrscht sie: „Freiheit!“. Sie spricht sehr laut, sehr artikuliert. Fragt, wie es sein könne, dass sie im Gymnasium so gut gewesen sei und dennoch krank. Wie sie hätte arbeiten können, einen Zweiradladen alleine betreuen, als Kranke. Und, in Richtung Gutachter: „Es wurde nie die Pathologie der Eltern nachgefragt. Da hätten die Ärzte doch mal fragen müssen, was ist eigentlich mit dem Vater los.“

Die zwei Richterinnen und ein Richter fühlen sich sichtlich gestört. Steins Worte wie „in Bremen eingesperrt“ oder „ich wollte frei sein“ scheinen zu unmittelbar in dem halogen-beleuchteten Ledersessel-Ambiente, in dem unbeteiligte Menschen über den Geldwert eines Schicksals zu entscheiden haben. „Nun ist ja gut, nicht“, sagt die eine Richterin in Richtung Stein. „Wollen Sie die Antwort hören oder nicht“, herrscht sie der andere Richter an, als sie einmal mehr Details ihrer Misshandlung aufzählt. Und die dritte Richterin fragt angesichts Steins Forderung, man hätte sie doch schlicht freilassen sollen, gar: „Wo hätte sie denn hingehen sollen?“

All das interpretiert später Steins Anwältin Dr. Ilse Dautert: „Das Gericht will nicht mehr.“ Die Crux: Erst wenn dieses Gericht – es bliebe sonst nur noch das Bundesverfassungsgericht – den Behandlungs-fehler anerkennt, kann Vera Stein mögliche Gesundheitsschäden durch die Medikamente geltend machen. Doch nach des Gutachters Aussage – „das war halt so“ – lag ein Behandlungsfehler nicht vor. Nach dem damaligen Wissensstand habe man eben behandelt. Die Anwältin will jetzt noch einen Psychopharmakologen aussagen lassen. Das Gericht habe alle in den Prozess eingebrachten Gutachten zur Kenntnis zu nehmen und alle Widersprüche auszuräumen, referiert sie Prozessrecht. Da dies hier ihrer Meinung nach nicht geschehe, bleibe noch eine Chance, vorm Bundesverfassungsgericht vorgelassen zu werden. Die letzte.

Das OLG findet sich keineswegs zu wenig informiert. „Sachverhaltsmäßig ist alles ausdiskutiert“, so der eine Richter gestern. Das Urteil soll am 22. Dezember verkündet werden. Ich freue mich“, sagt der Professor noch, bevor er aufsteht und geht, „dass es Ihnen wieder so gut geht.“ Vera Stein sieht ihn an. Dann sagt sie, laut: „Wäre ich nicht eingesperrt gewesen, ging's mir früher schon gut. Das hat mein Leben zerstört.“ sgi

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