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Die Tagebücher der Yvonne Scheppler

Die Untersuchung oder Der Untergang des Hauses Kohl, Teil 10

von WOLFGANG MÜLLER

Mal sehen, was die anderen so bringen, dachte Hartmut Gossel und drückte auf die Fernbedienung. Auf der Mattscheibe amüsierten sich ein gut frisierter Dünner und ein bärtiger Dicker, der aussah, als wäre er gerade von den Hell Angels verstoßen worden. Entlarvt als Weichei. „Hey, ich finde dich echt nett!“, sagte der Dicke fröhlich zu dem Dünnen, der den Kopf schüttelte: „Wir hätten die letzten fünf Mark achtzig lieber für fünf Liter Milch ausgeben sollen.“ Abrupt stoppte das Bild und eine Zeichentrickspirale verrenkte sich auf dem Standbild. Aus ihrer Mitte schoss ein trudelndes Fragezeichen und füllte bald das ganze Format. „Und Sie?“ schmeichelte eine sanfte Frauenstimme aus dem Off, „wie finden Sie unsere Kandidaten? Wer muss raus? Stimmen Sie ab – jetzt!“ Gossel betätigte die Austaste.

„Möchten Sie noch ein Gläschen?“, flötete Yvonne, die ihren Chef die ganze Zeit über genau beobachtet hatte. Gossel nickte kurz mit dem Kopf, wies mit seinen Wurstfingern auf das bildlose Fernsehgerät und raunzte: „Und das ist jetzt der große Renner?“ Yvonne zupfte ein paar Wollmäuse von ihrem weinroten Strickkostüm und lächelte: „Gewiss, mein 12-jähriger Sohn verpasst keine Folge. Alle reden davon.“ Dann erhob sie sich, ging zur Glasvitrine, nahm die Cognacflasche heraus und goss Gossels Lieblingsgesöff in einen übertrieben großen Cognacschwenker.

„Dieser Westerwelle ist doch wirklich ein raffinierter Kerl. Der hat da auch schon mitgemacht“, gurgelte Gossel.

„Na ja, Kerl ist vielleicht nicht der richtige Ausdruck“, kicherte Sekretärin Yvonne. Sie musste für Gossel alle Vorschläge der Mitarbeiter in ein genau bestimmtes Format übertragen und in der Schrifttype Haettenschweiler ausdrucken lassen. Dabei hatte sie gelegentlich einige Passagen gelesen. Gossel verzog sein Gesicht und streckte seine Zungenspitze heraus. Mit noch spitzeren Fingern zupfte er an dem weißen Belag herum, der sich wie eine Winterlandschaft über seine Zunge wölbte.

„Bäh, eine Fruchtfliege war im Cognac.“ Yvonne verzog mitleidend ihr Gesicht. Gossel verdrehte die Augen. Irgendwie ging ihm Yvonne auf die Nerven. Sicher, er war immer davon ausgegangen, dass sie ein Auge auf ihn geworfen hatte. Wenn er mit seiner Lore telefonierte, knackte es so komisch in der Leitung. Klar, dass sie manchmal im Vorzimmer mithörte. Sie war halt ziemlich eifersüchtig. Einmal hatte sie ihn auch „Bärli“ genannt, aus Versehen, denn Lores Kosenamen konnte sie ja unmöglich kennen. Schlimm fand Gossel das eigentlich nicht. Sie hatten sogar gleichzeitig losgelacht. Frauen sind halt etwas neugierig, dachte er. Und Liebe macht sie bekanntlich blind. Er nickte zufrieden mit dem Kopf.

„Wieder alles gut?“, strahlte Yvonne, nahm die winzige Fliege aus Gossels Fingern und streifte den lädierten Kadaver in ein Papiertaschentuch.

„Dirk van Becker bringt ja auch nichts mehr“, murmelte Gossel. „Seine neusten Vorschläge waren katastrophal!“

„So was will doch keiner sehen!“, erwiderte Yvonne.

Gossel schaute erstaunt auf.

„Was wollen die Leute denn?“

„Persönliche, intime Geschichten!“, strahlte Yvonne.

„Mach de Aff‚ tanz uff de Tisch oder was?“

„Ja, so etwas bleibt hängen. Keine Zahlen oder so. Die merkt sich niemand.“

Gossel war beeindruckt. Vielleicht hatte er Yvonne ja etwas unterschätzt.

Er straffte seinen Oberkörper: „Nun. Ich bekomme demnächst neues Material, direkt vom Zentrum des Alten.“

„Wohl kaum“, schnippte Yvonne, „das ist alles aus zweiter Hand. Selbst seine Frau hält im Grunde treu zu ihm.“

„Woher wollen Sie das wissen?“ Gossels Hand verkrampfte sich um den Cognacschwenker.

„Wissen Sie, Hartmut, ich bin eine Frau und weiß, wie Frauen denken . . .“ Yvonne machte eine lange Pause, dann hauchte sie, “. . . und weiß, was sie fühlen.“

Der Schwenker in Gossels Hand zerbrach.

Yvonne Scheppler wurde 1967 in Berlin geboren. In diesem Jahrgang stand ihr Name in der Reihe der beliebtesten Berliner Mädchennamen an 33. Stelle.* Doch Liebe hatte sie kaum erfahren. Ihr Vater war ein Gelegenheitsarbeiter und Trinker und ihre Mutter hatte sich frühzeitig aus dem Staub gemacht. Genau wie der Vater ihres ersten Kindes, ein mittelloser Jazztrompeter aus dem Sauerland. Sie wuchs bei einer Tante ihrer Mutter auf. Erst durch ihre Arbeit mit dem Sender hatte sie so etwas wie Familie erfahren. Und Hartmut Gossel war für sie Vater, Freund, Kamerad und auch Geliebter, wenngleich es zum Letzteren noch nicht gekommen war. Sie saß in ihrem schmucken Wochenendhäuschen und betrachte das Porträt von Hartmut Gossel, welches in einem schweren Goldrahmen über dem Sofa hing. „Ach“, seufzte Yvonne, „wenn er nur wüsste, was ich für ihn schon alles gemacht habe.“ Hektisch tippte sie Buchstabenreihen in die Schreibmaschine. Überall flogen beschriebene Papiere herum, stapelten sich Stöße von Manuskripten. Auf dem Klapptisch lagen fünf schwarze Mappen, jede versehen mit einem weissen Sticker: „H. K. – intimes Tagebuch“. Sie hatte genau überlegt, wem sie welche Fassung wann und wie zukommen lassen wollte. Eines war für Hannelore Kohl bestimmt. „Lore, Lore“, äffte Yvonne und knallte Mappe „Lore“ auf die Mappe „Gossi“, die Mappe für Hartmut Gossel. Geringschätzig fuhr ihr Blick über die Mappen „Güldemeister“ und „Ralf Bönt“. Ja, und dann war da nur noch eine übrig.

Yvonne Scheppler umklammerte den Füller mit der rechten Hand – sie war Linkshänderin – und schrieb in ungelenken Buchstaben auf einen großen braunen Umschlag „Zu Händen Dr. Helmut Kohl, von einer, die es gut mit Ihnen meint“ und schob die erste Mappe hinein. Aus der Gartenlaube drang ein überaus hässliches Lachen.

* Mackensen: „Das große Buch der Vornamen“, München 1969

Wolfgang Müller hat nach „Blue Tit – das deutsch-isländische Blaumeisenbuch“ gerade seine CD „Ich hab’ sie gesehen! (Elfen, Zwerge & Feen)“ im Martin Schmitz Verlag herausgebracht.

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