Die WG der Jogginghosenträger

Das Projekt: eine allein erziehende Mutter, ein Maurer, ein Student, ein Flüchtling aus Afghanistan, ein Bioingenieur und ein Sozialarbeiter samt Familie

„Heimfeld-Nord war doch als die Bronx von Hamburg verschrien.“

aus Hamburg HEIKE HAARHOFF

Es riecht nach Farbe und Fugenkitt, es stapeln sich Fliesen neben Eisenstangen neben Dämmstoff, es ist ein Altbau in der Sanierung, aber der Einzug von zehn Erwachsenen und zwölf Töchtern bereits auf Mitte Dezember terminiert, und es klingt, als werde die Lieferung starker Nerven dringend erwartet: „Ich lass mich nicht verscheißern“, gellt es durch das Treppenhaus, „schon gar nicht beleidigen“, schwere Schritte kommen die Betontreppe nach oben, „du sagst, meine gelbe Tapete ist hässlich“, ein zornesroter Männerkopf auf geschwollenem Hals biegt um die Ecke, „aber ich finde sie schön“, Marcus Conrad, 31 Jahre, kurze, braune Haare, kariertes Hemd, baut sich vor seiner Architektin auf: „Überlegst du dir manchmal, wie ätzend du mit deinen Mitmenschen umgehst?“

Maren Bredenbeck ist Profi genug, um nicht zurückzukläffen. „Reden wir nachher in Ruhe drüber, ja?“ Ein Haus zu planen, umzubauen, zu sanieren ohne Stress, ohne Beschimpfung, ohne zwischenmenschliche Pannen, das gibt es nicht. Sagt die Erfahrung der Architektin Bredenbeck. Schon gar nicht, wenn es sich um ein 22-köpfiges Wohnprojekt handelt, bei dem die künftigen Bewohner knapp ein Fünftel der Handwerkerarbeiten selbst und zusätzlich zu ihrer normalen Berufstätigkeit erledigen müssen, um im Gegenzug staatliche Fördermittel zu erhalten. „Wir kommen morgens vor der Arbeit hierher und abends nach der Arbeit bis 23 Uhr“, brüllt Marcus Conrad, „seit März geht das so, ich schaff kaum mein Studium, und meine Tochter seh ich auch nicht mehr.“

Zum eigenen Haus durch eigene Muskelkraft: Schon die Hamburger Hafenstraße wurde – nach jahrelangem Straßenkampf – Mitte der 90er-Jahre von ihren ehemaligen Besetzern nach diesem Modell saniert und in ein legales genossenschaftliches Wohnprojekt verwandelt. Schröderstift, Große Freiheit und Laue-Areal sind weitere prominente Namen auf der Wohnprojekteliste, die von der Alternativen Baubetreuung (ABB) durch die Freie und Hansestadt Hamburg, wie die Fördermittel offiziell heißen, profitierten. Vielen stand das Büro „Planerkollektiv“, für das die Architektin Maren Bredenbeck arbeitet, fachlich zur Seite; allen voraus gingen wortgewaltige Schlachten um Häuserleerstand, Spekulation und den Wunsch nach alternativen Lebensformen. Wer darüber hinaus Polizei und Wasserwerfer zu provozieren vermochte, galt als politisch geadelt. Ein Wohnprojekt ohne politischen Hintergrund zu fördern und dann auch noch von Menschen, die so wenig verdienen, dass ihnen das Sozialamt ohne mit der Wimper zu zucken den Wohnberechtigungsschein ausstellt, das hingegen gab es bislang nicht. „Insofern“, sagt Maren Bredenbeck, „ist das schon etwas anderes hier.“

Hier, das ist die Grumbrechtstraße in Heimfeld-Nord, ein traditioneller Arbeiterstadtteil im Süden Hamburgs. Drei-, vier- und fünfgeschossige, dicht beeinander stehende, unauffällige Mehrfamilienhäuser im Besitz der städtischen Wohnungsgesellschaften. Gestärkte Häkelgardinen in den Fenstern, Zwerge und Gummirehkitze in den Gemeinschaftsgärten, werktags auch Wäschespinnen, hier und da Garagen, ein Lebensmittelhöker. Ein Ort, an dem man Leben jenseits der klassischen Familienstrukturen nicht erwartet.

Bernd Wiese hatte ihn schon seit Jahren, „diesen Traum, etwas Gemeinschaftliches zu machen“, genau genommen seit seinen studentischen WG-Zeiten. Aber dann gründete der Bioingenieur eine Familie, es kamen zwei Töchter, berufs- und finanziell bedingt blieben die Wieses in Heimfeld, in einer Wohnzimmer-Schlafzimmer-Kinderzimmer-Butze. Bernd Wiese lächelt, bald ist das vorbei, stolz führt er durch die Räume im dritten Stock in der Grumbrechtstraße, die er und seine Familie im Dezember beziehen werden und deren Wände Bernd Wiese im Frühjahr, als nach jahrelangem Hickhack endlich die Baugenehmigung für das Wohnprojekt kam, eigenhändig gestemmt hat, weil ihm der ursprüngliche Grundriss nicht gefiel. „Die Kinder sollen ordentlich Platz haben.“

Ansonsten wenig Revolutionäres: Ein Wohnzimmer und ein gemeinsames Schlafzimmer wird es weiterhin geben. „Es ging uns ja um nichts Großes.“ Aber darum, mit netten Freunden und Bekannten aus dem Stadtteil ein Haus zu teilen, mit Stanislaw „Stani“ Heyser, dem polnischen Maurer, eine Freundschaft, die über den gemeinsamen Ballettunterricht der Töchter entstand, mit Nuri, dem Flüchtling aus Afghanistan und seiner Familie, mit Marcus Conrad, dem traditionsbewussten Studenten aus dem ersten Stock, dessen Oma bereits in der Grumbrechtstraße lebte, mit einer allein erziehenden Mutter und schließlich mit der Familie von Jochem Lüpke, dem Sozialarbeiter aus dem örtlichen Krankenhaus, der als erster vor Jahren den Aushang entdeckte: „Interesse an Wohnprojekt? Die Stattbau GmbH informiert.“

Die Stattbau, das ist eine alternative Baubetreuungsfirma, die in Hamburg im Auftrag der Stadt schon so manche Stadtteilsanierung durchgeführt hat, stets in enger Zusammenarbeit mit den Bewohnern, und ab Mitte der 90er-Jahre eben auch in Heimfeld. „Wohnprojekte stellen einen stabilisierenden Faktor für das Quartier dar“, wusste Stattbau-Geschäftsführer Tobias Behrens schon damals. Aber nach dem ersten Informationstreffen mit den Heimfeldern war Behrens, der sich ansonsten häufiger in den Szenevierteln Ottensen und Schanze bewegt, dennoch überrascht: „Das sind Leute, die gern auch mal Trainingsanzug tragen und nichts dabei finden, samstags zu grillen“, stellte er anerkennend fest.

„Viele haben wohl gedacht, ein Wohnprojekt muss erst mal Eier und Tomaten werfen, bevor es ein richtiges Wohnprojekt ist“, lacht Jochem Lüpke. Wie schnell man Klischees aufsitzen kann. „Bei uns behält natürlich jede der sechs Parteien ihre eigene Wohnung.“

Das Verbindende, der Projektcharakter ergibt sich eher durch die Einstellung der künftigen Bewohner. Die Verständnis haben, dass aus Kinderstiefelprofilsohlen schon mal getrocknete Erdklumpen auf die frisch gewischte Treppe fallen. Die es nicht als Katastrophe betrachten, wenn der Kinderwagen im Hausflur den gesetzlich vorgeschriebeben Fluchtweg um fünf Zentimeter versperrt. Die Lust auf einen Gemeinschaftsgarten und auch mal eine Hausparty oder ein gemeinsames Bierchen oder Kinobesuche haben und wissen, dass es da günstig ist, Nachbarn zu haben, mit denen man sich beim Babysitten abwechseln kann.

„In gewisser Weise“, sagt Bernd Wiese, „ist das hier mein Traum in abgespeckter Form.“ Aber selbst um den zu verwirklichen, vergingen bald vier Jahre. Vier zähe Jahre Korrespondenz mit der zuständigen Stadtentwicklungsbehörde und der stadteigenen Wohnungsgesellschaft Saga, der bald 90 Prozent der Wohnsubstanz im Stadtteil gehören. Auf deren Zustimmung man also angewiesen war. „Heimfeld-Nord“, sagt Jochem Lüpke, „war doch als die Bronx von Hamburg verschrien.“ Arbeitslosigkeit 9,4 Prozent, Sozialhilfeempfänger 7 Prozent, Höhe der Einkommen 16 Prozent unter dem Hamburger Durchschnitt, Anzahl der Ausländer fünf Prozent über dem Hamburger Durchschnitt. Ein Ort der stadtsoziologischen Kategorie „sozialer Brennpunkt“, der auf keiner Landkarte der Hausbesetzerszene eingezeichnet ist.

Dass es hier Leerstand gab und gibt, fiel irgendwann der Stadt auf. Leerstand, nicht bedingt durch Immobilienspekulanten, die ihre Mieter rausekeln und ihre Häuser absichtlich verfallen lassen, um anschließend fette Beute zu machen. Sondern Leerstand aufgrund von Arbeitslosigkeit, die die Menschen zum Wegziehen oder in die Obdachlosigkeit zwingt, Leerstand wegen feuchter Wände und unzureichender Sanitäreinrichtungen, für deren Erneuerung die Wohnungsgesellschaften kein Geld zu haben behaupten.

Und ausgerechnet in einem solchen Stadtteil ein Wohnprojekt unterstützen? Es wäre das erste Mal. Ein Risiko also. Begriffe wie „Unruhestiftung“, „Chaos“ und „Destabilisierung“ machten die Runde. Hatte man nicht schon genug Mittel im Rahmen des so genannten Armutsbekämpfungsprogramms in das Problemviertel Heimfeld gesteckt? Die regierenden Hamburger Sozialdemokraten nörgelten. Die Saga winkte ab.

Die Vorstellung, dass die unterschiedlichsten Leute eine Hausgemeinschaft bilden wollen könnten, einfach so, weil sie sich gut verstehen und von der Anonymität in ihren Vier- und Fünfgeschossern die Nase voll haben, war auch den aufgeklärteren Hamburger Sozialdemokraten und selbst deren Chefdiplomaten Thomas Mirow suspekt.

„Viele dachten, ein Wohnprojekt muss Tomaten werfen.“

Mirow, damals Senator für Stadtentwicklung, hatte mit dem ihm eigenen politischen Verhandlungsgeschick soeben erreicht, was von den Hardlinern der CDU für utopisch gehalten worden war und nun entsprechend skeptisch beäugt wurde: eine friedliche Lösung für die Hafenstraße. Jetzt, es war Herbst 1997, war Wahlkampf in Hamburg. Thomas Mirow fuhr nach Heimfeld. Er hatte wahrlich andere Sorgen als die Bewilligung noch eines Wohnprojekts. Bis Bernd Wiese und Jochem Lübke sich ein Herz fassten und ihn auf der Rednerbühne abpassten.

„Ich kann mich noch gut an die Begegnung in Heimfeld erinnern, gerade weil die Interessenten für das Wohnprojekt nicht dem Klischee des linksalternativen ABBlers entsprachen“, sagt Mirow heute. „Nach meinem Eindruck war es ihnen sehr ernst.“ Und weil der Senator korrektes Auftreten und Seriosität nun einmal schätzt, setzte er sich über alle Bedenken hinweg: „Sozial benachteiligte Stadtteile können nur Stabilität gewinnen, wenn die Bewohnerinnen und Bewohner aktiv an der Verbesserung der Lebens- und Wohnqualität mitarbeiten können und wollen. Und es war unverkennbar, dass diese Familien hierzu gewillt und in der Lage waren.“

Nachdem diese Hürde genommen war, konnte die Saga, immerhin ein stadteigenes Unternehmen, sich nur noch schlecht weigern. Nur manchmal, an Abenden, wenn die Wohnprojektler bis tief in die Nacht in ihrem neuen Heim gewerkelt haben, sehen sie ein Auto, das dem des Saga-Geschäftsführers ähnelt, durch die Grumbrechtstraße schleichen. Gehalten hat es bislang nicht. „Wie auch immer“, sagt Jochem Lübke, „es steht jetzt fest, dass wir Weihnachten unsere Bäume in der Grumbrechtstraße . . .“

„Scheiße“, brüllt es von unten. Es ist Marcus Conrad. „Die Wände – total schief.“ Ein Geräusch, als knalle eine Wasserwaage zu Boden. Schritte. Irgendwer kommt ihm zu Hilfe.

Jochem Lübke fährt unbeirrt fort: „Ja, ganz richtig gehört, ich sagte unsere Bäume. Ich glaube, dass jede Familie nach all diesen Monaten Baustress froh ist, wenn sie Weihnachten erst mal unter sich ist.“

Für die Hausgemeinschaft bleiben die Jahre danach.