: Sein Name sei Blümchen
Schriften zu Zeitschriften: Ein Buch von Birgit Kempker wurde verboten, weil sie Bettgeschichten in Gedichte transformiert hat – zum Schaden des Mannes. Das neue „Schreibheft“ widmet sich dem Fall
von RENÉ AGUIGAH
Die Wahrheit fällt nicht vom Himmel, das wäre zu schön. Sie hat ihre besonderen Orte, Beichtstühle zum Beispiel, Forschungslabore oder auch Gerichtssäle. Verglichen mit dem Himmel ist das der steinige Boden der Tatsachen.
Das Landgericht Essen schickte vor ziemlich genau einem Jahr der Schriftstellerin Birgit Kempker einen Brief – es war eine Klage. Ein Mann hatte zufällig ein Buch der Autorin in die Finger bekommen. Wie der Mann heißt, ist geheim; nennen wir ihn also Blümchen. Das Buch heißt „Als ich das erste Mal mit einem Jungen im Bett lag“, ein Prosagedicht von knapp hundert Seiten. Herr Blümchen erkannte sich in dem „Jungen“ wieder, denn sein Name fällt dort etwa dreihundertmal, er hat es nachgezählt. Pikanterweise hatten Birgit Kempker und er tatsächlich vor vielen Jahren eine Affäre. Deshalb fühlte sich Herr Blümchen in seiner Intimsphäre verletzt. Und also begab sich das Gericht auf die Suche nach der Wahrheit und verurteilte die Autorin und ihren Verlag: fünftausend Mark Schmerzensgeld, außerdem ist das Buch aus dem Verkehr gezogen.
Als der Titel vor zwei Jahren in kleiner Auflage erschien, ist er kaum wahrgenommen worden, selbst den Gerichtsstreit haben nur wenige Kritiker kommentiert. Dieser Zurückhaltung setzt das Schreibheft jetzt ein ganzes Dossier entgegen. Ein Drittel der neuen Ausgabe beschäftigt sich mit dem „Buch vor Gericht“. Zum Glück hat Herausgeber Norbert Wehr darauf verzichtet, den Fall einfach in der langen Reihe irgendwie ähnlicher, nur stets prominenterer Fälle zu versenken, etwa Marcel Prousts Figur Baron de Charlus oder Heinrich Manns „Mephisto“. Auch pathetische Rufe nach der Freiheit der Kunst findet man kaum. Nur vereinzelt dringen sie durch, etwa wenn Roger Willemsen schreibt: „Einem künstlerischen Werk gegenüber nach der Justiz zu rufen ist immer barbarisch.“ Er hat ja Recht, der Willemsen, und trotzdem würde sein Satz jedes Nachdenken über den Casus Kempker beenden: Alle Schöngeister klopfen sich auf die schmalen Schultern, Literatur ist gut und alles andere böse.
Das Schreibheft gewinnt dem Fall mehr ab, und zwar durch einen einfachen Kunstgriff: In dem Dossier prallen völlig verschiedene Texte aufeinander, die im Umfeld des Prozesses entstanden sind. Vor Willemsens Kommentar liest man eine Briefserie von Barbara Bongartz und ein paar Seiten von Birgit Kempker selbst. Beide Texte lassen sich literarisch lesen, und beide umspielen auf ihre Weise die Realität – charmant polemisch der eine, dicht und artifiziell der andere. Der Rest des Dossiers ist Nonfiction: der Wortlaut des Gerichtsurteils, die Verteidigungsschrift des Anwalts, ein literaturwissenschaftliches Gutachten. Alle Texte kreisen um den einen Text, um eine Leerstelle, die beim bloßen Blättern ins Auge springt: Alle Hinweise auf Herrn Blümchen sind geschwärzt. Sofort setzt ein rastloses Suchen nach Bruchstücken ein, aus denen sich das verbotene Buch wieder zusammensetzen ließe – natürlich ohne Erfolg.
Dafür wird etwas anderes sichtbar: ein kleiner Ausschnitt aus der Funktionsweise der juridischen Vernunft. In Jahrhunderten hat sich die Justiz Kenntnisse aus den Gesellschafts- und Naturwissenschaften einverleibt, so viel ist bekannt; Gerichtsmediziner, Gerichtspsychologen und Sozialarbeiter stellen ihr Wissen zur Verfügung. Aber das Wissen der Philologen lassen die Richter, zumindest im Fall Kempker, glatt abtropfen. Schon in der Wortwahl: Das Urteil bezeichnet das Prosagedicht als die „streitgegenständliche Geschichte“ – und schließt damit ein, dass die Autorin abgebildet haben könnte, was tatsächlich geschehen ist. Anders gesagt: Die Wahrheitssuche der Richter kommt zu dem Ergebnis, dass ein Stück Literatur vor allem von der Wahrheit handelt.
Die Richter wägen ab zwischen der Freiheit der Kunst und dem Persönlichkeitsschutz, ein Streit zweier Grundrechte. Auf diese Alternative lässt sich Joachim Kersten, der Verteidiger, aber nicht ein. Das Buch handele nämlich von keinem realen Herrn Blümchen, sondern von Poesie. Argumente dafür liefert ihm Thomas Schestag, Literaturwissenschaftler aus Frankfurt. Dessen Gutachten taucht in ein völlig anderes Universum als die der Essener Richter. Schestag führt die literarischen Gesetze vor, denen Kempkers Buch folgt. „Als ich das erste Mal mit einem Jungen im Bett lag war es Blümchen“ – immer wieder setzt das Gedicht mit diesen Worten an, und diese Serie, diese abweichende Wiederholung, verfremdet den Eigennamen der Figur. Von keiner authentischen Person spricht das Buch, eher von der Sprache selbst. Um das zu erklären, bietet Schestag ein kleines Arsenal semiotischer Instrumente auf. Er unterläuft die Trennung von Biografie und Fiktion. Er deutet die Wortspiele an, die Blümchens Name ermöglicht. Schestag zeigt, wie Birgit Kempker zeigt, wie porös die Grenzen zwischen Worten sind.
Die Richter reagieren kühl. Es sei „durchaus denkbar“, dass ein Leser in Blümchens Namen schlicht und einfach den Kläger erkennt, und keine „Buchstabenkombination“. Der Satz klingt wie eine Parodie auf literarisches Lesen, fast hört man die Richter lachen – im Namen des Volkes. Diese Selbstgewissheit untergräbt das „Schreibheft“, schon weil alle anderen Texte dem Urteil beständig ins Wort fallen. Ab heute wird zurückgelacht.
„Schreibheft“. Zeitschrift für Literatur, Nr. 55, November 2000, hrsg. von Norbert Wehr, Rigodon Verlag Essen, 190 Seiten, 20 DM
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