: Konzentration auf den Kern
Auf dem bevorstehenden EU-Gipfeltreffen soll die Gemeinschaft zukunftstauglich gemacht werden. Mit den bekannten Vorschlägen wird ihr das kaum gelingen
Was auch immer die Politiker beim EU-Gipfel in Nizza beschließen, es wird unbefriedigend sein. Die Gemeinschaft muss ihre Institutionen nämlich nicht nur für die Osterweiterung reformieren; nein, sie muss sich künftig auch als Föderation bewähren, die in die letzten klassischen Hoheitsbereiche der europäischen Nationalstaaten – Geld, Justiz und Militär – hineinwächst: mit einheitlicher Währung, Grundrechtscharta, Schaffung eines „Raums der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts“ und Aufstellung einer europäischen Eingreiftruppe.
Für die Entwicklung der Union nach Nizza werden daher drei grundsätzliche Konzepte diskutiert:
1. Es sollen mehr Flexibilität und Diversität in der erweiterten Union erreicht werden durch „verstärkte Zusammenarbeit“ zwischen einigen Mitgliedstaaten. Diese Gruppenbildungen innerhalb der Union könnten jedoch mehr schaden als nutzen. Denn zu einer föderalen Vertiefung trägt „verstärkte Zusammenarbeit“ nichts bei. Denkbar ist sie allenfalls in der gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik oder in der „Wirtschaftsunion“, vorausgesetzt, die zwölf Eurostaaten nehmen daran teil.
Noch größere Vorsicht ist bei der gemeinsamer Rechtsetzung geboten. Die Mitgliedstaaten, die im Bereich des Umwelt- und Verbraucherschutzes verstärkt zusammenarbeiten können und wollen, wären andere als in der Verkehrspolitik und diese wieder andere als bei der Gestaltung von Arbeitnehmerrechten. Die EU würde so zur Patchwork-Union.
Als Ausnahme kann „verstärkte Zusammenarbeit“ eine Vertiefung einzelner Politikbereiche bewirken. Als Strukturprinzip untergräbt sie die Handlungsfähigkeit der gemeinsamen Organe, zerstört die Einheit des gemeinschaftlichen Rechts, stärkt die nationalen Bürokratien und verwirrt die Bürger.
2. Eine europäische Föderation von Nationalstaaten soll geschaffen werden mit einer gemeinsamen Verfassung für alle Mitgliedstaaten oder für eine Gruppe von ihnen mit einem Vertrag im Vertrag. Dass jemals alle Mitgliedstaaten eine solche Konstruktion akzeptieren, ist ein frommer Wunsch. Die Realisierung dieses Projekts bedeutet die Spaltung der Union und die Teilung Europas in „ins“ und „outs“.
Manche glauben, dass dies ohnehin das Ergebnis einer unvermeidlichen Krise sein werde. Dass diese „heilsam“ sein könnte, ist aber eher unwahrscheinlich. Sie gar zu einem Element des Reformkonzepts zu machen, ist europäische Katastrophenpolitik. Deutsches Interesse ist es jedenfalls, die Union mit allen ihren Mitgliedstaaten, den heutigen wie den künftigen, zusammenzuhalten.
3. Das bestehende institutionelle Dreieck – Rat, Kommission und Parlament – soll gestärkt und gestrafft werden, die Union zugleich auf Kernaufgaben und -kompetenzen konzentriert. Der Europäische Rat übernähme so die Rolle eines „kollektiven Unionspräsidenten“ – Typ französischer Präsident. Er hätte die „Richtlinienkompetenz“ in der EU, besetzte die obersten Ämter in der Union, schlüge dem Europäischen Parlament den Kandidaten für die Wahl des Kommissionspräsidenten vor und müsste unter bestimmten Bedingungen das Europäische Parlament auflösen können.
Der Rat ist das Organ, das Reform am nötigsten braucht. Er wird als „Staatenkammer“ gemeinsam mit dem Europäischen Parlament zum Gesetzgeber der Union. Er erlässt im Zusammenwirken mit der EU-Kommission die Durchführungsregelungen für die EU-Gesetze und behält darüber hinaus bestimmte exekutive Aufgaben. Wenn die Union an Mitgliedstaaten zunimmt, muss sie an Aufgaben abnehmen, um fit zu bleiben. Das ist mehr und anders als die ohnehin gebotene Beachtung des Prinzips der Subsidiarität. Die europäische Integration hat einen Punkt erreicht, an dem die Union ihre Zuständigkeiten in Kernaufgaben verstärken und sich aus Randaufgaben zurückziehen muss. Manche Siege werden durch kluge Rückzüge erfochten.
Die Europäische Kommission wird, verglichen mit den nationalen Regierungen, eine andere Struktur und eine andere Legitimation haben. Aber sie muss der Kopf der Brüsseler Verwaltung, nicht nur ihr Hut sein. Dafür muss sie unabhängig von der Zahl ihrer Mitglieder gestärkt statt zu einer Art Sekretariat degradiert werden.
Das Europäische Parlament wird in der gesamten EU-Rechtsetzung ein mitentscheidendes, nicht ein alles und allein entscheidendes Parlament sein. Es wählt den Präsidenten der Kommission, setzt die Kommission ein und entlässt sie. Es spiegelt in seiner Zusammensetzung annähernd die Zahl der Bevölkerung in den Mitgliedstaaten wider. Im Übrigen muss es seine eigene Arbeitsweise grundlegend reformieren.
Verstärkt werden müssen die Zuständigkeiten der Union auf den klassischen Feldern erfolgreicher politischer Großorganisationen: die Garantie sowie die soziale und ökologische Begrenzung der Marktfreiheiten, die Verfügung über die gemeinsame Währung, die Garantie der Rechtsgleichheit und der Sicherheit der Bürger über die Binnengrenzen hinweg und die Verteidigung der gemeinsamen Interessen nach außen. Darauf muss sie ihr Handeln konzentrieren.
Die Union braucht die Konzentration auf einen Kern von Aufgaben, nicht von Mitgliedstaaten. Neue Organe, ein „Sekretariat“ für die verstärkte Zusammenarbeit (Chirac) oder eine zweite (oder dritte?) Kammer des Europäischen Parlaments, zusammengesetzt aus nationalen Abgeordneten (Fischer und Blair), führen zur Verantwortungsverwischung und Legitimationsverschleierung. Sie säen Konfusion, wo Transparenz nötig ist. Die Bürger werden dann noch weniger verstehen können, wer wann was in Brüssel und Straßburg entscheidet. Die Union braucht nicht mehr, sondern effizientere Institutionen. Für plebiszitäre Elemente fehlen die politischen, gesellschaftlichen und kulturellen Voraussetzungen. Der Vorschlag, einen Unionspräsidenten oder den Kommissionspräsidenten direkt von den Völkern wählen zu lassen, führt in die Irre. Man stelle sich den üblichen und unvermeidlichen Fernsehwahlkampf vor und frage sich nach der „Bürgernähe“ von Kandidaten, die von der Mehrheit der Bürger nur über Dolmetscher verstanden werden. Auf der Ebene der Union muss es bei der repräsentativen Demokratie bleiben. Allenfalls ein Verfassungsvertrag oder eine Verfassung könnte durch Volksabstimmungen angenommen werden. Das System der Legitimationsstränge und der institutionellen „checks und balances“ in den Nationalstaaten kann nicht einfach auf die europäische Ebene übertragen werden.
Natürlich wird in Nizza nicht das letzte Wort über die Struktur der erweiterten Union gesprochen. Die Struktur der erweiterten EU wird erst in der erweiterten Union gefunden – und durch sie. Weil wir die Erweiterung der EU nach Osten wollen und brauchen, müssen wir aber auch akzeptieren, dass sie nicht nur größer, sondern auch ganz anders werden wird. KLAUS HÄNSCH
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