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Wir essen den Gegner auf

Wahre Lokale (48): Trotzig glimmt das Leben in der Braunschweiger „Funzel“

Im überkochenden Hexenkessel werden je nach Mannschaft Pizza oder Baked Beans gereicht

Die ohnehin schon in Richtung Mahagoni gebeizte, durch die stete Tabakräucherung aber noch einmal nachgedunkelte Holzvertäfelung verleiht der „Funzel“ eine frugale, archaische Aura, die vom Pächterduo Achim und Jackson durch gewohnheitsmäßiges Tragen von Holzfällerhemden, ausgewaschenen Jeanshosen und -jacken noch einmal nachdrücklich untermauert wird. Hier brauchst du dich nicht zu verkleiden, wollen diese Attribute sagen, denn hier bekommst du sowieso nur Wolters Pilsener, Fürst Bismark, Aldi-Weißwein und einen schwarzen Sirup, den man für Grafschafter Goldsaft halten könnte, wenn man nicht Kaffee bestellt hätte – also nichts, was eine Verkleidung lohnte.

Schlipsträgern und allzu adrett gekleideten Damen gehen die beiden denn auch schon mal freundlich entgegen, wohl wissend, dass sie sich hier nur verlaufen haben können: „Ach, etwas essen wollen Sie? Ja, da habe ich einen guten Tipp, da gehen Sie die Straße ganz runter, dann rechts und gleich wieder links, da kommen sie zur ‚Schüssel‘. Da kann man gut essen ...“

Jackson ist der kühl kalkulierende Kopf der beiden, der Rechner, der auch im bibeldicken Deckelstapel nie die Übersicht verliert und immer gerade zur rechten Zeit, nämlich bevor sie der Kuckuck holt, die immensen Ausstände eintreibt. „Stammkunden“, sagt er achselzuckend. Und es ist klar, was die Geste meint: „Wenn ich diese Penner erziehen wollte, würden die alle zum ‚Anno‘ abwandern, und dann könnte ich den Laden hier gleich dichtmachen.“

Achim, sein Partner, hat die schlechtesten Zähne Braunschweigs, aber ein gesundes großes Herz, noch dazu auf dem rechten Fleck. Ein Mann von einem gewaltigen Harmoniebedürfnis, der den Film „Muriels Hochzeit“ nicht zu Ende sehen konnte, weil ihn das darin geschilderte menschliche Elend zu sehr an seine Kindheit erinnerte, ein Mann, der auch noch freundlich lacht, wenn ihn zwei verhaltensgestörte Maschinenbauer ob des Flippers anranzen, der hier sinnigerweise auf dem Klo steht: „Ey, Achim, ich will jetzt ja nicht meckern, aber der Triple Jack Pot ist im Arsch, das musste bei Gelegenheit mal reparieren lassen ...“

Dieser zur Spielhölle transformierte Abort verrät schon von weitem seine eigentliche, ursprüngliche Bestimmung – und so kommt es denn alle sechs Wochen vor, dass einer der beiden Wirte, immer alternierend, also immer Achim, zur Tat schreitet. Meistens am Vormittag, weil da nur ein paar Studenten die geschwänzten „Veranstaltungen“ absitzen (die „Funzel“ befindet sich nämlich im Braunschweiger Uni-Viertel, das im Grunde nur ein Achtel ist). Vor dem halben Dutzend E-Techniker also, die das Schauspiel schon kennen und deshalb nicht mal aufsehen, streift sich Achim einen Gummihandschuh über, nimmt die mittlerweile postgelbe Klobürste nebst WC-Ente und flucht sein notorisches „Mann, jetzt kommt diese Scheiße wieder ...“. Die zwei verhaltensgestörten Flipper-Lunatics lassen dafür sogar das Spiel sausen, sie würden jetzt ja nur stören!

Ein gut geführtes kleines Lokal, könnte man also meinen, das sich um seine Existenz keine Sorgen zu machen brauchte. Nun, ganz so rosig sieht es leider nicht aus. Die beiden Wahlbraunschweiger mussten in den vergangenen Jahren einsehen, dass gerade den kleinen Eckkneipen ein schärferer Wind um den Schornstein weht, und haben infolgedessen, wenn auch schweren Herzens, den Schritt zur so genannten Event-Gastronomie gewagt. So gibt es hier nun gelegentliche Jazz- und Blueskonzerte und sogar Dichterlesungen, bei denen man den Künstlern generöse hundert Mark Honorar zahlt, aber am Ende des Abends abrechnet wie ehedem in „Bob’s Country Bunker“: „So, ihr Jungs bekommt 100 Mark, wie abgemacht, und auf euren Deckeln stehen zusammen, na, lasst mich noch mal nachrechnen, genau 137,50 ...“

Etwas Besonderes hat man sich jedoch für die Hochsaison, also für Fußball-Europa- und -Weltmeisterschaften ausgedacht. Da werden Tische und Stühle zu einer veritablen Tribüne gestapelt, zwei Fernsehgeräte aufgestellt – und die gemütvolle Gaststätte verwandelt sich in einen überkochenden Hexenkessel. Illegale Wettlisten gehen herum, mit denen schon mancher ein kleines Vermögen gemacht hat. Dann schlägt sich die ganze Lokalbesatzung bäuchlings auf die Seite des Heimteams und startet die legendäre Aktion „Wir essen den Gegner auf!“ – je nach gegnerischer Mannschaft werden dann Pizza oder Baked Beans gereicht. Nur wenn Deutschland einmal zu oft verliert, lässt auch ein Jackson einmal alle Contenance vermissen: „So, wer jetzt noch lacht, ist ein Vaterlandsverräter!“ Und eine Welle des Gelächters schlägt über ihm zusammen. FRANK SCHÄFER

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