Sterben lassen

DAS SCHLAGLOCH
von MICHAEL RUTSCHKY

Die Niederländer haben dem Einzelnen in seinem Sterben größere Möglichkeiten eingeräumt. Aber auch das Freiheitsrecht wird bezahlt. Die Verfügung über das Leben wird erst dem Sterbenden eingeräumt, dann Dritten. Vor Jahren fanden Eltern, dass sie so gegenüber ihrem mongoloiden Säugling verfahren dürften. Dass er bald nach der Geburt einen Pförtnerkrampf bekam, traf sich günstig. Arzt und Eltern stellten die Hilfe ein, der lästige Esser ist dahin. Auch dieser Fall wurde mit Verständnis betrachtet. Es muss ein schönes Ding mit der Freiheit sein.

Stephan Speicher, „Berliner Zeitung“, 29. 11. 2000

Die Tötung auf Verlangen ist keine echte Hilfe der Lebenden für die Sterbenden. Denn Sterbende ersehnen nicht die erlösende Todesspritze, sondern etwas ganz anderes: menschliche Zuwendung und wirksame Schmerzlinderung. Das jedenfalls ist die Erfahrung der Hospizbewegung, deren Mitarbeiter Sterbende begleiten und auf diese Weise dem Sterben in der Öffentlichkeit und im Leben jedes Einzelnen wieder mehr Raum verschaffen wollen. Sie sorgen für eine gute Schmerztherapie, geben durch menschliche Nähe dem Kranken die Möglichkeit, sein Sterben persönlich zu gestalten. Dann taucht der Wunsch, den Tod durch eine Spritze vorzeitig herbeizuzwingen, nicht mehr auf.

Martin Gehlen, „Der Tagesspiegel“, 30. 11. 2000

Eigentlich sollte ich doch über BSE schreiben, wie in den nächsten Jahren in Deutschland eine Creutzfeld-Jakob-Epidemie ausbricht, weil die Politiker ... Oder über den „kleinen Joseph“, mittels welcher komplizierten Grübelei der Verdacht aufrechterhalten werden kann, er sei vielleicht doch von der ganzen Kleinstadt getötet worden? Oder eine Reflexion zweiter Ordnung? Warum bildet seit einigen Jahren die Panik (anlässlich ganz unterschiedlicher Themen) das (rasch wechselnde) Zentrum des gesellschaftlichen Interesses?

Dabei wollte ich die ganze Zeit meine Bewunderung für die Niederländer zum Ausdruck bringen. Mit der Legalisierung der aktiven Sterbehilfe setzten sie eine bemerkenswerte Politik fort, die höchst schmerzhafte persönliche Entscheidungen aus dem Bereich des gesetzlich geregelten Verwaltungshandelns herausnimmt und die Person dazu ermächtigt. Der Staat zog sich aus der Lebensgeschichte zurück und trug damit einer Entwicklung Rechnung, die, großformatig gesagt, die Theorie von Thomas Hobbes als leitendes Schema für das Verhältnis von Staat und Person außer Kraft setzte. Keineswegs agiert das Individuum immer und überall als reißender Wolf, wenn der Staat sein Leben nicht in ein genaues Regelwerk einfasst (wie man inzwischen weiß, agieren so nicht einmal die Wölfe).

In den Niederlanden begann, wenn ich mich richtig erinnere, diese Ermächtigung der Person für schmerzliche, auch schuldbeladene Lebensentscheidungen mit der Liberalisierung der Abtreibung (die hierzulande natürlich auch massenhaft stattfand, freilich illegal und gefährlich). Dass die Legalisierung des Drogenkonsums die Probleme desselben besser zu bearbeiten erlaubt als das Verbot, bestreiten, wenn ich richtig sehe, unterdessen nur noch die Anhänger des Phantasmas von der „drogenfreien Gesellschaft“; in Rotterdam wurde mir die Kirche gezeigt, deren Pfarrer es, gegen das Gesetz, sogar mit der Ausgabe von Heroin versucht. Bravo! möchte man rufen, dazu braucht es die Kirche: als moralische Avantgarde, die scheinbar unlösbare Situationen in Angriff nimmt. (Vertraut ist uns dieser Gedanke aus der Praxis des Kirchenasyls: Hier finden Flüchtlinge, denen der Staat den Aufenthalt verweigert und die er abschieben will, Schutz.)

Nun also die aktive Sterbehilfe, nachdem die Legalisierung der passiven augenscheinlich zu keiner erkennbaren Anomie geführt hat. Merkwürdigerweise fehlten für Deutschland zu der Frage in der Medienerzählung alle demoskopischen Daten, aber ich bin sicher, dass sich eine Mehrheit für die niederländische Entscheidung findet.

Die Antike ehrte den Selbstmord als letzten Ausweg, wenn die Lage keinen anderen mehr bietet, und ich habe es immer für peinliche Schönfärberei gehalten, dass gewisse Kader die Stammheimer Selbstmorde anzuerkennen verweigerten, die doch die Souveränität der Akteure wiederherstellten. Wie in vielen anderen Hinsichten bleibt die Antike hier Vorbild, und die Niederlande werden ihm nun folgen.

Sigmund Freud ließ sich, als das Geschwür seine Wange durchbrach und so ekelerregend stank, dass es sogar seine Hunde verschreckte, die verabredete Morphiumspritze geben. Der Pädagoge Bruno Bettelheim ertastete – wenn ich das richtig im Gedächtnis habe – mit letzter Kraft eine Plastiktüte, um sie über den Kopf zu stülpen und zu ersticken: Ein schwerer Schlaganfall hatte ihn fast vollständig gelähmt, und keinesfalls wollte er sich in eure Abhängigkeit begeben, liebe Menschenfreunde, damit ihr ihm ein langes Krankenlager beschert sowie die Möglichkeit, sein Sterben persönlich zu gestalten, als handle es sich um einen Keramikkurs. Eine der quälendsten Gewaltdarstellungen, liebe Literaturkritiker, bietet der Tod der alten Konsulin Buddenbrook: Sie darf, vergeblich um Medikamente bettelnd, im Großfamilienkreis, unter der anteilnehmenden Zuwendung all ihrer Lieben ausführlich an ihrer Lungenkrankheit verenden. Das ist sie dem Familienkult schuldig.

Ich möchte bezweifeln, dass jeder Sterbende sich unbedingt Gesellschaft wünscht. Viel spricht dafür, dass es sich um einen Vorgang der Intimität handelt, bei dem man genau so wenig beobachtet werden möchte wie beim Sex. Der Großvater der Kollegin M. lag daheim im Sterben und suchte sich für den Exitus haargenau den Augenblick, wo Sohn und Tochter verlässlich außerhalb beschäftigt waren. Meine Mutter fühlte sich wohl verwahrt auf der Intensivstation – professionelle Helfer sind weniger indiskret – und starb zwei Stunden nachdem sie es erfahren (und begrüßt) hatte, dass der Sohn am nächsten Tag angereist käme. Dass ich ihr beim Sterben zusähe, hätte es für sie gewiss sehr kompliziert. Vielleicht bringt sich hier ein Moment aus unserer vormenschlichen Erbschaft zur Geltung: auch viele Tiere suchen zum Sterben die Einsamkeit.

Was die deutschen Reaktionen auf die niederländische Weisheit betrifft, von denen ich oben zwei Exempel gegeben habe, so imponiert zum einen das so genannte Helfersyndrom, das am liebsten das Sterben, wie gesagt, zu einem Keramikkurs ausgestalten würde, wobei die Helfer, wie immer, ganz ohne Einsicht in ihre eigenen Motive sind. Schon mal was von Voyeurismus gehört? Was die Empörten betrifft, von der Ministerin bis zum Feuilletonredakteur, so machten sie es so aussehen, als hätten die Niederländer die offizielle Tötung ihrer Alten und Schwachen als Regel eingeführt – was wieder einmal belegt, dass demonstrative moralische Empfindlichkeit regelmäßig den anderen Leuten die Bereitschaft zu jedweder Schandtat unterstellt. Auch wenn dazu nicht der geringste Anlass besteht.

Hinweise:Es braucht eine Kirche, die scheinbar unlösbare Situationen in Angriff nimmtIch möchte bezweifeln, dass jeder Sterbende sich unbedingt Gesellschaft wünscht