: „Ein neues Verhältnis zur Elite“
Interview CHRISTIAN FÜLLERund SEVERIN WEILAND
taz: Herr Machnig, können Sie sich an einen Mann namens Carl-Heinz Evers erinnern?
Matthias Machnig: Nein, wer ist Carl-Heinz Evers?
Evers war in der SPD derjenige, der unter Willy Brandt den Slogan „Mehr Demokratie wagen“ in ein Bildungsprogramm übersetzt hat – in Aufstieg durch Bildung. Wer spielt heute in der SPD diese Rolle?
Wir haben keinen Mangel an guten Personen. Und die SPD ist sich aufgrund ihrer Tradition als Arbeiter- und Bildungsverein ohnehin sehr bewusst, welche Rolle Bildung spielt: dass Bildung die Grundlage für die Teilhabe an dieser Gesellschaft ist. Gerhard Schröder hat das in seiner Regierungserklärung wieder deutlich gemacht.
Bildung ist für die SPD also ein großes Thema. Trotzdem ähnelt die Situation heute verdächtig der, gegen die Evers und andere in den 60ern ankämpften: schlecht ausgestattete Schulen, zu wenig Lehrer. Was tut die SPD gegen diesen Bildungsnotstand?
Wir haben keinen Bildungsnotstand. Was passiert, ist, dass Bildungsprozesse heute einem gewaltigen Veränderungsprozess unterworfen sind. Wir reden zum Beispiel darüber, dass das Internet völlig neue Möglichkeiten der Bildung, der Informationsbeschaffung eröffnet. Das stellt ganz neue Anforderungen an das Bildungssystem.
Zum Beispiel?
Wir brauchen mehr Autonomie für Schulen und Hochschulen, mehr Kooperation mit der Wirtschaft, wir müssen internationaler werden.
Sie sagen, wir müssen internationaler werden. Die Zuwanderung Hochqualifizierter würde die Schwächen des hiesigen Bildungssystems aufdecken.
Es stimmt, wir brauchen Experten aus dem Ausland, weil wir in bestimmten Bereichen kaum mehr in der Lage sind, genug qualifiziertes Personal anzubieten. Was mir allerdings fehlt, ehe wir jetzt nur noch über Zuwanderung reden, ist zunächst einmal eine Qualifizierungsdebatte für die Bundesrepublik. Wie können wir diejenigen hervorragend ausbilden, die hier groß werden?
Wie wollen Sie verhindern, dass der Bundesligaeffekt die ganze Gesellschaft ergreift: Dass in der ersten Mannschaft nur noch ein Einziger mitspielt, der hier ausgebildet wurde – der dann aber trotzig das Schwarzrotgold als Kapitänsbinde trägt?
Das stimmt ja nicht. Es gibt eine Reihe hervorragender eigener Nachwuchsspieler. Ich war gerade bei Intershop in Jena. Dieses junge Intrenet-Unternehmen aus Ostdeutschland hat zur Jahreswende 3.000 Beschäftigte weltweit. Das beweist, dass dieses Land immer noch Spitzenbegabungen hervorbringt.
Sie beklagen doch selbst, dass die Formel vom lebenslangen Lernen die Facharbeiter verunsichert.
Das Prinzip ist richtig, aber die Vermittlung muss verbessert werden. Man muss werben für beständiges Weiterbilden: Dass es eine individuelle Bereicherung ist, dass man sich auch als Persönlichkeit weiterentwickelt.
Das klingt nach Streicheleinheiten für Ihre Stammwählerschaft.
Nein, das sind keine wahltaktischen Überlegungen. Wir haben in der Wirtschaft eine enorme Beschleunigung. Das ist kein abstraktes Soziologenkauderwelsch, sondern eine Entwicklung, die Sie Tag für Tag beobachten können. Über die Häfte aller Schüler haben inzwischen ein Handy – vor ein paar Jahren galten Leute mit diesen Dingern noch als Yuppies.
Das Handy ist selbstverständliches Kommunikationsmittel geworden.
Aber viele Menschen empfinden zum Beispiel bei der Schnelligkeit des technischen Wandels auch Unsicherheit. Deswegen hat die Politik die Aufgabe, den Menschen zu sagen, was die kalkulierbare Rahmenbedingungen für ihre Biografien sind. Wir, die SPD, fassen das in der Formel „Sicherheit im Wandel“ zusammen.
Was hat die Formel mit Bildung zu tun?
Für das lebenslange Lernen bedeutet sie zum Beispiel, dass Unternehmen auch bereit sein müssen, ihre Beschäftigten freizustellen. Damit sie sich ohne Angst um ihren Job weiterqualifizieren können, damit sie die Scheu vor den neuen Schlüsselqualifikationen verlieren – wie Teamorientierung, Zeitmanagement oder die Fähigkeit, zu moderieren und zu motivieren.
Früher war Chancengleichheit das Stichwort der SPD. Von Bildungsministerin Edelgard Bulmahn lernen wir nun, dass Chancengerechtigkeit en vogue ist. Können Sie uns den Unterschied zwischen beidem erklären?
Beide Begriffe haben ihre Berechtigung. Wir Sozialdemokraten haben immer dafür gefochten, dass die Zugänge zu Bildung für alle offen stehen. Aber wir müssen über ein neues Verhältnis von Breitenqualifikation und Spitzenqualifikation nachdenken ...
... darüber, dass auch Sozis elitär sein wollen?
Ich glaube, dass die SPD ein sehr viel unverkrampfteres Verhältnis als vor 30 Jahren dazu hat, den Begriff der Elite zu benutzen. Wir brauchen Spitzenbegabungen. Und die muss das Bildungssystem zur Verfügung stellen.
Das sagt auch die CDU.
Ja, aber die Konservativen haben Eliteförderung immer gegen den Zugang breiter Schichten der Gesellschaft zu Bildungsabschlüssen ausgespielt. Das kann kein sozialdemokratischer Weg sein. Für uns gilt, was Georg Picht in den 60er-Jahren angemahnt hat: alle Bildungsreserven zu erschließen.
Wie wollen Sie das mit jenen anstellen, die kaum noch mithalten? Was passiert mit den Hauptschülern?
Die dürfen nicht abgehängt werden. Kohl hat ein furchtbares Erbe hinterlassen. Bei den 20- bis 29-Jährigen sind 1,3 Millionen junge Menschen ohne Berufsabschluss geblieben. 1,3 Millionen! Wir sind nicht gewillt, die im Stich zu lassen. Unser zentralen Anliegen bleibt die Durchlässigkeit des Bildungssystems.
Ihre Parteifreunde wollen diese Durchlässigkeit einschränken: Sigmar Gabriel stellt in Niedersachsen die Orientierungsstufe in Frage. In Brandenburg doktert der SPD-Bildungsminister an der sechsjährigen Grundschule herum. Will jetzt auch die SPD die Schüler schon nach der 4. Klasse in Gute und Schlechte sortieren?
Die Durchlässigkeit kann unabhängig davon aufrechterhalten werden, ob ich eine sechs- oder vierjährige Grundschule habe. Es ist möglich, Übergänge von der Realschule auf das Gymnasium oder von der Hauptschule auf die Realschule offen zu halten.
Sie unterschätzen den Druck, der in Familien entsteht, wenn die Kids schon in der 4. Klasse vor die Alternative gestellt werden: Top oder Flop, Gymnasium oder Hauptschule.
Seit den 70er-Jahren ist doch der Anteil derjenigen, die einen gymnasialen Abschluss machen, kontinuierlich gewachsen – auf über 30 Prozent eine Jahrgangs. Und es gibt auch andere Möglichkeiten für Kinder, die sich spät entwickeln. Was wir tun müssen, ist, Eltern Mut zu machen. Wir müssen Eltern aus bestimmten sozialen Bereichen, die bei der Förderung ihrer Kinder immer noch zurückhaltend sind, Wege zu viel versprechenden Abschlüssen aufzeigen.
Aufklärung, viel versprechende Abschlüsse, gut ausgestattete Schulen – das kostet alles viel Geld. Die Regierungspartei SPD scheint nicht bereit zu sein, das auszugeben.
Zunächst einmal gilt, dass wir von unseren schwarz-gelben Vorgängern einen gigantischen Schuldenberg übernommen haben. Den werden wir nun durch eine strikte Konsolidierungspolitik abtragen. Trotzdem hat diese Regierung geleistet, was sie angekündigt hat: Sie hat die Ausgaben für Bildung kontinuierlich erhöht. Zusätzlich wird sogar das, was wir durch die Lizenzen für die UMTS-Mobilfunkfrequenzen an Zinsersparnissen erwirtschaften, reinvestiert – in die Verkehrsinfrastrukturen sowie in Bildung und Wissenschaft.
Eine echte Prioritätensetzung nehmen Sie aber nicht vor. Die UMTS-Milliarden fließen zuallererst in die Technologie des 19. Jahrhunderts, die Schienen. Die Schulen sehen vom UMTS-Geld keinen Pfennig.
Da widerspreche ich Ihnen ausdrücklich: Eisenbahn ist keine Technologie des 19. Jahrhunderts, sondern des 21. Jahrhunderts.
Wo soll das viele Geld für Schulen und Hochschulen denn herkommen?
Was wir brauchen, sind neue Finanzierungsinstrumente, die auch für den privaten Sektor interessant sind. Dazu gehört das Stiftungsrecht, das wir bereits reformiert und für privates Geld geöffnet haben. Und alles das, was mit den drei Ps gemeint ist: Public Private Partnership, eine Partnerschaft von Staat und Unternehmen.
Was soll die Industrie daran reizen?
Wenn es richtig ist, dass Qualifikationen zunächst einmal im Land produziert werden müssen, dann müssen sich die Unternehmen fragen, ob sie denn nicht einen Beitrag leisten müssen und wie er aussehen kann. Erwin Staudt von IBM hat mit der D-21-Initiative, die Schulen mit Computern ausrüsten hilft, gezeigt, wie das gehen kann.
Die Industrie hat über Jahre hinweg ihre Lehrlingszahlen gesenkt. Vielleicht ist es für die Unternehmen einfach billiger, Bildung ins Ausland zu verlagern: In Bangalore in Indien werden die Leute gut ausgebildet, dann holt man Sie mit der Green Card rein.
Ich glaube nicht, dass ein deutsches Unternehmen dieses will. Das ist kein realistischer Weg. Ein Standort wie die Bundesrepublik Deutschland hängt davon ab, was wir an eigenständigem Know-how, was wir an eigenständigen Qualifikationen hier aufbauen können.
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