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Doing the locomotion

Bei der Bahn sorgen Personen mit Schäden für Personenschäden. Schade eigentlich

„I had a friend who took a wife/ Did too much junk and lost her life/ He ran away to kill the pain/ Such a shame, he didn’t see the train/ They found his legs in Wavertree/ His arms were in Fazakerley/ The Doctors somehow put him back together“

(Ian McNabb „Merseybeast“)

Die Deutsche Bahn AG hat Nerven. Schickt Kolosse mit zwohundertfuffzich Sachen durch die Republik und wundert sich, dass manchmal jemand im Weg steht. Täglich gehen drei Selbstmörder den Weg des größten Widerstands und warten auf den Zug. Mal spazieren sie ihm unbefangen entgegen, mal kauern sie verschämt zwischen den Gleisen. Mit den Toten, die dergestalt das Jahr über anfallen, könnte die Bahn mühelos zwei ICE-Sonderzüge füllen.

Nachdem unlängst sogar 16 Lebensmüde an einem Tag auf den Schienen gewissermaßen Nägel mit Köpfen machten, baten Bahner per Pressemitteilung die Medien um Zurückhaltung. Man fürchte den „Nachahmungs-“, den Werther-Effekt, so Bahnsprecher Dirk Große-Leege. Statt Schlagzeilen wie „Jung und lebensmüde: Sprung vor die U-Bahn“ wünsche man sich Unverfänglicheres – wie etwa „Notarzteinsatz“ oder „Betriebsstörung“. Die transparenten Führerstände von ICE-Zügen neuerer Generation etwa sind daher mit einer magischen Scheibe ausgestattet, die sich gegebenenfalls auf Knopfdruck in Milchglas verwandeln lässt, um selbstmörderische Sauereien vor den Augen der Passagiere zu verbergen. Hier hat jemand für ein paar Pfennige mitgedacht. Andere Stimmen dagegen fordern, eine der häufigsten Ursachen für Verspätungen offensiv in der Öffentlichkeit zu vertreten.

Die Ursachen sind in der Tat mannigfaltig: Pleite, unheilbare Krankheit oder unerwiderte Liebe sind nur einige der Geißeln, die Menschen seufzen lassen: „So, Feierabend, jetzt oder nie, I’ll do the locomotion!“ Und wer sich ernsthaft mit seinem selbst bestimmten Ableben auseinandersetzt, kommt an der Bahn als letalem Dienstleister mit konkurrenzlos kundenfreundlichem Schienennetz nicht vorbei.

Einschlägige Ratgeber loben ihre tödliche Zuverlässigkeit und entzücken sich sogar über Verspätungen: Beim finalen Blick in die Wolken kann man sich alles noch einmal gründlich durch den Kopf gehen lassen, bevor derselbe mit erfreulicher Sicherheit guillotiniert wird.

Wegen des nicht unerheblichen Momentums schneller Züge gilt es auch als ebenso sicher, den Wagen auf einem ungesicherten Übergang zu parken und noch ein bisschen Musik zu hören – auch wenn der Sachschaden hernach ein größerer ist.

Was natürlich bisweilen im Interesse der Delinquenten sein dürfte: nicht mit dem Klotz am Bein im dunklen Teich verschwinden, sondern sich über mehrere Bahnkilometer hinkleckern – eine Stilfrage. Zugführer und Sanitäter jedenfalls schwärmen oft noch jahrelang von Hackfleisch auf Schotter und Ravioli in Baumkronen.

Vor allem die einsamen Fahrer von Güterzügen schätzen es, sich nachts mit Taschenlampe und Müllsack die Füße zu vertreten. Knifflig wird’s, wenn Selbstmörder mit Zugzwang vom Anprall weggeschleudert werden. Professionelle Spurensicherer – die jeden Suizid kriminalistisch untersuchen und sogar die Lokomotive als Corpus Delicti beschlagnahmen können – sind in einem solchen Fall für jeden Ariadne-Darm dankbar, anhand dessen sich der zugehörige Kadaver im Unterholz aufspüren lässt.

Bei allem Überschwang aber gibt sich die Bahn zurückhaltend. Ihr Chef Hartmut Mehdorn, ratlos am Rande eines Milliardenlochs, weiß nur zu gut: Die Probleme der Eisenbahn löse ich nicht, indem ich mich davor lege. Fest steht, dass Freunde des „angedeuteten Selbstmordes als Hilfeschrei“ bei der Bahn an der falschen Adresse sind. Meistens jedenfalls: „Now he lives down in the Dingle/ Says he’s happy being single/ Smokes a lot of dope, and rambles on forever“ ARNO FRANK

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