Wenn Frau Öffentliche Meinung Lethe trinkt

■ Nicht zu Unrecht wurde die temporeiche, gewitzte Premiere von Offenbachs „Orpheus in der Unterwelt“ im Theater am Goetheplatz heftigst umjubelt, trotz einiger Ausbremser

Die satirische Kunst Joseph Offenbachs darf man nicht nur neu beleben, man muss es sogar. Denn das Pariser Publikum um 1860 ergötzte sich im zweiten Kaiserreich bei „Orpheus in der Unterwelt“ an der Karikatur seines Diktators Napoléon III einerseits, andererseits aber auch an sich selbst. Orpheus und Eurydike werden nämlich als bürgerliches Paar gezeigt, das sich nicht mehr liebt; aber die „öffentliche Meinung“ wacht über den Schein. Das ist aktuell, meint nicht nur der Regisseur Peter Lund – und schrieb neue Texte dazu, wodurch sich die Gewichtung der einzelnen Rollen verschob. So wird Daniela Sindram im Outfit einer Klatschjornalistin als „öffentliche Meinung“ der Star des Abends. In aller Schärfe klagt sie ihre Macht ein, um am Ende selbst korrupt zu werden. Sie treibt Orpheus dazu, seine ungeliebte, von Pluto in den Hades beförderten Eurydike zurückzuholen, und sie macht Jupiter alias Napoléon klar, dass er in ihrer Hand steht.

Drei Stränge interessieren Peter Lund darüber hinaus besonders: die zerrüttete Ehe zwischen dem drittklassigen Geigenlehrer Orpheus und seiner vernachlässigten Frau Eurydike, die bizarre Götterwelt als einer Versammlung schlafmütziger, intriganter Machthaber und die Funktion der Kunst. Die Götter und Göttinnen sind alles Kinder Junos und Jupiters, was uns angesichts der jüngsten Ereignisse in der Republik nicht gerade unbekannt vorkommt, obschon Lund in seiner Arbeit Personalisierungen erfreulicherweise vermieden hat. Jupiter wurschtelt sich fahrig durch die von ihm mitangezettelte Intrigenwirtschaft. In atemberaubend fantasievollen Kostümen (von Claudia Doderer) ist da eine aberwitzige Gesellschaft aufgebaut, von der blinden Justitia, dem flitzigen Götterboten Merkur über den lederbekleideten Höllengott Pluto bis zur Venus, die hier eine alte Frau ist.

Statt zu moralisieren, fordert uns Lund auf, herzhaft über die Zustände zu schmunzeln, und macht uns klar, dass wir alle in dieser Operette mitspielen. Damit steht der junge Regisseur glaubwürdig im Stil Offenbachs, der trotz subversiver Energie auch ein augenzwinkernder Apologet der Verhältnisse war. Wunderbar, wenn die Götter meinen, sie schlafen seit 2000 Jahren alles aus, wenn Jupiter sich der angebeteten Eurydike als Fliege nähert, wenn die öffentliche Meinung das Lethewasser trinkt und auf der Stelle ihre ganze Moral vergisst, oder wenn die Götter ihre ganze Revolution aus dem Auge verlieren, als Jupiter ihnen anbietet, mit in die Unterwelt zu gehen und vieles kurzweilige mehr. Selbstverständlich, dass es im berühmten CanCan keinen Rekurs auf die geschwenkten Mädchenbeine der Belle Epoque gibt, sondern die komplette furiose Verwirrungsorgie eines Bachanals.

Was an diesem Abend hakte, wird sich hoffentlich im Laufe der nächsten Aufführungen noch glätten: überhören wir manche allzustarke Plattheiten des Dialogs, so fehlte es gelegentlich an Tempo. Ein solches Stück funktioniert nur, wenn Pointe an Pointe kommt - und wenn man diese auch akustisch versteht. Streckenweise mangelte es an beidem. Das schauspielerisches Niveau, das den SängerInnen abverlangt wird, kann natürlicherweise nicht jeder/jede bringen. Auch könnte sich die Verve der Musik deutlicher aus dem Text entfalten. Man fragte sich, warum ein so gutes Grundkonzept in solche Löcher fällt. Aber vielleicht war's einfach nicht fertig.

Neben der excellenten Daniela Sindram brillierte Karsten Küsters als Jupiter, George Stevens als kurzbehoster Cupido und Armin Kolarczyck als ewig in der Vergangenheit lebender Styx. So gut Iris Kupke als Eurydike und Carsten C. Löschmann als Orpheus auch waren und vor allem sangen, das war für die Ansprüche dieser Inszenierung zu opernhaft. Ebenso fehlte Katherine Stone als Juno, deren Rolle Lund enorm ausgebaut hat, die Leidenskraft ihrer Gestalt. Es liegt mir fern, SängerInnen fehlende kabarettistische Qualitäten anzukreiden, aber manch zähe (Leer)stelle hat hier wohl ihren Grund. Nicht umsonst haben Max Reinhardt und Walter Felsenstein für ihre Aufführungen des Werkes neben Sänger, auch Schauspieler eingesetzt.

Der neue erste Kapellmeister Graham Jackson holte aus dem Staatsorchester Schwung und Witz heraus: nicht einfach bei einer Partitur, die einen permanenten Wechsel der Ausdruckscharaktere bis hin zur gespreizten Gluck- und Mozartparodie verlangt. Auch hier werden sich noch rhythmische Ungenauigkeiten und Koordinationen mit der Bühne verbessern lassen. Spaß gemacht hat die ambitionierte Absicht dieser Produktion, auch wenn sich nicht alles umsetzen ließ. Besondere Erwähnung verdient noch das in klaren Linien und Farben gezeichnete Bühnenbild von Claudia Doderer, dem man anmerkte, wieviele Textimpulse ihm entsprungen sind.

Ute Schalz-Laurenze