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Die Kleinen üben Kofferpacken

Belgien macht einen revolutionären Vorschlag zur Stimmverteilung im Rat – und bringt damit die Verzweiflung der kleinen Mitgliedsländer zum Ausdruck

aus Nizza DOROTHEA HAHN

Am vierten Tag des historischen Gipfels von Nizza, der zu diesem Zeitpunkt eigentlich seit über 24 Stunden zu Ende sein sollte, platzt den Belgiern der Kragen. Es ist der Aufstand eines Landes aus dem Kreis der Kleinen gegen die Großen in der EU. Die belgische Delegation legt einen Vorschlag für die Stimmengewichtung auf den Verhandlungstisch, wonach Polen im europäischen Rat der Zukunft genauso viel Gewicht haben soll wie Deutschland, Frankreich und Spanien. Polen mit seinen knapp 40 Millionen Einwohnern soll in den Kreis der Großen aufgenommen werden.

Der belgische Plan ist ein Verzweiflungsschlag. Er richtet sich nicht allein gegen die französische Spitze, die in Nizza die Verhandlungen führt, sondern auch gegen die anderen drei „Großen“, die jetzt ihre Machtposition in der EU ausbauen. Die Kleinen haben nicht vergessen, dass ihnen Präsident Chirac beim vorausgegangenen Gipfel von Biarritz unverhohlen gedroht hatte, ihnen fiele die „Verantwortung“ für ein Scheitern der Osterweiterung zu, wenn sie sich in Nizza quer stellen sollten. Wären sie nicht zum Erfolg verdammt, würden mehrere Delegationen der Kleinen bereits die Koffer packen, verlautete gestern aus verschiedenen Ecken.

Die großen EU-Länder hingegen spielen in Nizza demonstrativ Fairplay. Die Briten anerkennen, ohne mit der Wimper zu zucken, dass es bei den Gipfeln, die sie auszurichten hatten, nicht so komplizierte Aufgabenstellungen gab wie jetzt. Und aus Deutschland bemüht sich Außenminister Fischer, die Nizzaer Gipfelarbeit, die sich zäh in die Länge zieht, schön zu reden. „Wenn in ein Haus mit 15 Mietparteien zwölf zusätzliche Mieter einziehen, muss man Platz machen, umräumen und umverteilen“, erklärt er die Schwierigkeiten. Er tut es in selbstbewussten Ton desjenigen, der auf diesem Gipfel nichts verlieren wird.

Die französische Ratspräsidentschaft sei „arrogant“, hatte es in den letzen Wochen geheißen – nicht nur östlich des Rheins. Sie engagiere sich mehr für nationale als für europäische Interessen. Seit der Gipfel begonnen hat, ist diese Kritik leiser geworden. Als wären sich bei aller Uneinigkeit doch zumindest alle darüber einig darüber, dass dieser längste Gipfel der EU-Geschichte ein Erfolg werden müsse. Am euphorischsten zeigten sich die Franzosen selbst. „Wir kommen voran“, betonte Außenminister Hubert Védrine. „Es gibt keine Blockaden“, sekundierte der Vizeminister für Europafragen, Pierre Moscovici.

Tatsächlich hat Frankreich in Nizza deutliche Kompromissbereitschaft gezeigt. Bei der Zahl der Kommissare zum Beispiel. Da ließ sich Paris von „12 bis 14“, die es noch 1997 in Amsterdam wollte, auf jetzt bis zu 27 hinaufverhandeln. Oder bei dem künftigen deutschen Stimmgewicht im Rat. Da will zwar weder die rot-rosa-grüne Regierung noch der Staatspräsident eine stärkere Gewichtung hinnehmen. Aber über die so genannte „doppelte Mehrheit“ (siehe unten) ist Frankreich jetzt bereit, Deutschland ein größeres Gewicht einzuräumen, denn die doppelte Mehrheit berücksichtigt die höhere Einwohnerzahl Deutschlands. Von der Konkurrenz zwischen konservativem Staatspräsident und sozialistischem Premierminister ist in Nizza wenig zu spüren. Bei gemeinsamen Presseauftritten sind Chirac und Jospin um das „Wir“ bemüht. Auch der parteilose Außenminister und sein sozialistischer Vize spielen sich in Nizza die Bälle zu. „Frankreich spricht mit einer Stimme“, betont Außenminister Védrine.

Ein Erfolg in Nizza, so steht schon jetzt fest, wird zwei politische Väter in Frankreich haben. Einen Misserfolg hingegen werden sich die Linken und Rechten in Paris noch jahrelang vorwerfen. Und dann werden sie wohl auch offen darüber sprechen, was in Nizza nur als Gerücht die Runde machte: dass der 68-jährige Chirac nach seiner anstrengenden Vermittlungsreise vor dem Gipfel aus Gesundheitsgründen in der Nacht von Samstag auf Sonntag von Nizza nicht verhandeln wollte. Bei vorhergehenden Konferenzen hatten diese legendären Nachtsitzungen meist zu einer Einigung geführt. Wenn auch nicht immer zur besten.

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