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Museale Kopfgeburten

■ Jürgen Sieker sprengt die Grenzen der Porträtfotografie: Er erweckt Tote zum Leben und stellt Lebende daneben / Nebenbei wird der herkömmliche Kunstbegriff dekonstruiert

Ausstellungsmacher haben ihre eigenen Ziele. Zum Beispiel Peter Runge: „Wir haben mit der Ausstellung die falsche Trennung in überseeische und europäische Kunst überwunden“, jubiliert der engagierte Völkerkundler. Er findet es einfach unfair, dass die Künstler des Nordens in der Kunsthalle landen, die des Südens hingegen mit der Kunsthandwerk-Nische im Exotik-Museum vorlieb nehmen müssen. „Die außereuropäische Kunst wird hier seit über 100 Jahren als Vorbild rezipiert“, sagt Runge – ohne die afrikanische Plastik beispielsweise hätte es keinen Kubismus geben können. Picasso wusste genau um seine Vorbilder und sagte folgerichtig: „Ich kenne keine ‚afrikanische Kunst«“. Kunst war für ihn einfach Kunst, egal woher sie kam.

Dem Fotografen Jürgen Sieker liegen solche kunstpolitischen Gedanken fern. Eher zufällig ist er ins Übersee-Museum geraten: Eigentlich hatte er an der Porträtserie „Famous Faces“ gearbeitet. Irgendwann kam es ihm langweilig vor, Promifoto an Promifoto zu reihen. Um die Gleichförmigkeit der Bildfolge zu durchbrechen, wandte sich Sieker, der bis dahin immer nur Menschen fotografiert hatte, Menschenbildern zu: Statuen, Büsten, Masken, geschnitzte Kochlöffel, Schrumpfköpfe – nirgendwo findet sich eine derartige Vielfalt plastischer Menschendarstellungen wie in völkerkundlichen Sammlungen. Aber anderswo wurde Sieker ebenfallsfündig: Eine Max-Beckmann-Statuette in der Kunsthalle, eine Wilhelm-Lehmbruck-Büste in der Berliner Nationalgalerie.

Sie alle haben dieselbe Behandlung erfahren wie die lebenden Modelle: Siekers Schein-Werfer Matthias Höllings hat sie ausgeleuchtet, die Aufnahmen sind aus nächster Nähe gemacht. Oft ist nur ein Ausschnitt zu sehen. Die ursprüngliche Größe ist nicht mehr zu erkennen. Peruanische Indianer haben den Kopf eines Feindes auf sieben Zentimeter Größe zusammengeschrumpft, damit er nicht mehr so bedrohlich ist – Sieker macht das mit seiner unbarmherzigen Kamera wieder rückgängig, zeigt den Kopf überlebensgroß. Im Foto werden Strukturen sichtbar, die das Original verbirgt. Eine chinesische Miniatur, eigentlich gehobener Export-Kitsch, bekommt durch das weiche Licht eine fragile, melancholische Schönheit, die vorher niemand gesehen hätte.

„Mein Anspruch ist nicht, genau abzubilden“, sagt der Fotograf, „sondern die Originale zu interpretieren.“ Dabei gelingt es tatsächlich, urmenschliche Wesenszüge wie Aggression, Erotik oder Geschwätzigkeit herauszuarbeiten – egal, wo der Künstler sein Atelier hat; ob in einer modernen Nebelmetropole oder in einem von der Saharasonne verbrannten Dorf oder am Rande eines überschwemmten Reisfeldes. Erstaunlich sind die Parallelen, die über die Kulturen hinweg sichtbar werden: Thomas Lehnerers „Stehender“ passt ohne weiteres zum geschnitzten Ashanti-Scharfrichter aus Ghana. Und Riemenschneiders „Beweinung Christi“ harmoniert mit der geschnitzten Mutter-Kind-Figur am Rand einer Schale nigerianischer Yoruba.

Beiläufig ist die Ausstellung „Kopf an Kopf“ eine Negativ-Version von „Famous Faces“: Hier sind es Porträts von Menschen aus Fleisch und Blut, die sich der beim Ansehen entstehenden Blick-Routine entgegenstellen. Andererseits passen auch sie zu den anderen Exponaten. Gemeinsam sind allen die Konstanten menschlicher Existenz. Naomi Campbell kann ihre Ähnlichkeit mit einer kongolesischen Ahnenfigur nicht verhehlen. Bud Spencer lächelt milde mit einer chinesischen Buddha-Figur aus dem sechsten Jahrhundert um die Wette. Einen Spaß hat sich Sieker mit einer Eskimo-Regenkapuze gemacht: Hier fehlt der Kopf, aber der Überwurf aus Robben-Darmhaut lässt erahnen, wo er sein könnte. „Die Form erinnert an ein Renaissance-Porträt“, sagt er. Recht hat er.

Jan Kahlcke

„Kopf an Kopf“ wird bis zum 11. März im Übermaxx gezeigt (Di 10-18 Uhr, Mi bis Fr 11- 21 Uhr, Sa/So 12-18 Uhr)

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