: Ehebruch im Radio
Dr. Erwin Marcus, der allseits kundige Lebensberater, hört zum Jahresende auf ■ Von Kaija Kutter
„44 17 77 – mein Name ist Dr. Erwin Marcus, was wollen sie wissen?“ Dieser mit tiefer Stimme gesprochene Satz ging seit 1971 alldonnerstagabendlich über den Äther. Der Kultmoderator, der eigentlich Richter ist und in diesem Jahr 75 wurde, hört auf. Am Dienstag ab 19 Uhr können Hörer ihm zum letzten Mal unter der bekannten Nummer ihr Herz ausschütten. „Man muss auch mal von einer Sache loslassen können“, rät Marcus sich selbst. Er freue sich, Zeit für andere Dinge zu haben.
Die Sendung „Dr. Marcus“ spielte in der Jugend der heute 35 bis 50jährigen Norddeutschen eine bedeutende Rolle, war doch diese Kummerstunde zu Zeiten, als es noch keine Privatsender gab, fast die einzige. Nicht wenige hörten sie abends heimlich im Bett, wenn es um „heiße Themen“ ging, wie NDR-Redakteurin Ute Bromberger erinnert: „In den 70ern war Sexualität der große Renner. Da ging es um Verhütung, Abtreibung und immer wieder jede Menge Ehebruch.“
Mit der Zeit wandelten sich die Sorgen. Zuletzt sei die „zunehmende Vereinsamung der Menschen“ oft angesprochen worden, resümiert Erwin Marcus. Auch habe sich der Umgang mit Konflikten gewandelt: „Heute gehen die Menschen schneller auseinander.“ Die Bereitschaft zum Austragen von Konflikten scheine nachzulassen.
Manche fanden die Sendung, in der Hörer ihre intimen Probleme preisgeben, „peinlich“, viele „faszinierend“, „besonders, dass der auf alles immer eine Antwort wuss-te“, wie ein heute 36-jähriger gesteht: „Die Leute rufen mit irgendeinem Anliegen an und der kriegt in zwei Minuten raus, dass die eigentlich was ganz anderes wollen.“
Was dieser Bewunderer nicht weiß: Dr. Marcus wurde nie live gesendet, sondern stets vorproduziert. So wurden Quatsch-Anrufe und emotionale Ausbrüche rausgeschnitten und aussortiert.
Diese Chance wird Nachfolgerin Gabriele Heise nicht haben. Ihre Sendung aus der Reihe „Redezeit“ mit Schwerpunkt „Leib und Seele“ wird live übertragen. Man habe das Konzept des „allseitig kundigen Lebensberaters“, wie Dr. Marcus es war, nicht mehr weiterführen wollen, erklärt NDR-Sprecher Martin Gartzke. Deshalb lädt Heise, die nebenbei in der Familienberatung tätig ist, zu wechselnden Themen Experten ins Studio ein. Die Moderatorin soll nicht mehr selber beraten, sondern zwischen „Anrufern und Fachleuten moderieren“, so Gratzke. Der NDR hofft mit dem neuen Konzept – na was wohl? – die Jugend zu gewinnen.
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