„Ich würde wieder unterschreiben“

Zwei Prozesse am Landgericht wegen Aufruf zur Desertion im Kosovokrieg: Erneuter Freispruch für Erstunterzeichner und Berufungsverhandlung des Politikprofessors Wolf-Dieter Narr, der vom Amtsgericht zu 7.500 Mark verurteilt worden war

von RICHARD ROTHER

Im Prozess gegen einen Unterzeichner eines Aufrufes zur Desertion im Kosovokrieg ist es gestern Vormittag erneut zu einem Freispruch gekommen. Der Theologe Martin Singe habe von seinem Recht auf freie Meinungsäußerung Gebrauch gemacht, urteilte das Landgericht.

Singe hatte zusammen mit 38 weiteren Personen im März 1999 einen „Aufruf an alle Soldaten der Bundeswehr“ unterzeichnet, der als Anzeige in der taz veröffentlicht worden war. Darin hieß es: „Eine Beteiligung an diesem Krieg ist nicht zu rechtfertigen. Verweigern Sie deshalb Ihre Einsatzbefehle! Entfernen Sie sich deshalb von der Truppe!“

Die Erstunterzeichner waren daraufhin wegen des Aufrufens zur Fahnenflucht angeklagt worden. 32 von ihnen wurden in erster Instanz freigesprochen, sieben wurden zu Geldstrafen verurteilt. Gegen alle Urteile hatten die Staatsanwaltschaf bzw. die Verurteilten Berufung eingelegt. In der zweiten Instanz gab es bisher zwölf Freisprüche und eine Verurteilung zu einer Geldstrafe. Gegen alle Urteile hat die Staatsanwaltschaft Revision eingelegt.

Gestern Nachmittag fand vor dem Landgericht auch die Berufungsverhandlung gegen den Berliner Politikprofessor Wolf-Dieter Narr statt. Narr, der seit 1971 am Otto-Suhr-Institut der FU lehrt, war im März vom Amtsgericht Tiergarten zu einer Geldstrafe von 7.500 Mark verurteilt worden. „Ich würde diesen Aufruf auch heute wieder unterschreiben“, wiederholte er zu Beginn seiner mehrstündigen Einlassung vor zahlreich erschienenem Publikum, was er schon vor dem Amtsgericht erklärt hatte. „Der Krieg gegen die Bundesrepublik Jugoslawien war völkerrechtswidrig, da der UN-Sicherheitsrat nicht eingeschaltet war “, so Narr weiter. Deshalb sei eine Desertion nicht nur nicht strafbar, sondern sogar grundgesetzlich geboten.

Rechtsanwältin Maria Wilken betonte in ihrem Plädoyer ebenfalls die Völkerrechtswidrigkeit des Kriegseinsatzes. Wilken verwies darüber hinaus auf das Recht auf freie Meinungsäußerung. Auch deshalb müsse Narr freigesprochen werden. Staatsanwalt Ante hingegen argumentierte, dass es sich bei dem Aufruf nicht um eine freie Meinungsäußerung gehandelt habe, sondern um einen Aufruf zur Fahnenflucht. Selbst ein völkerrechtswidriger Einsatz der Bundeswehr hätte die Soldaten nicht dazu legitimiert, der Truppe fernzubleiben. Das Urteil erging nach Redaktionsschluss.