: Behinderte als Versuchskaninchen?
Expertenkommission untersuchte, ob geistig behinderte Heimbewohner des Eisinger St.-Josefs-Stifts von Humangenetikern heimlich für Genforschung benutzt wurden. Die beschuldigten Würzburger Wissenschaftler fühlen sich verleumdet und als Opfer einer Kampagne gegen die Humangenetik
von WOLFGANG LÖHR
„Eigentlich ist es ja unglaublich“, sagt der Hamburger Psychiatrieprofessor Klaus Dörner. „Über vier Jahre sind hier am Eisinger St.-Josefs-Stifts über 200 Menschen genetisch untersucht worden, und keiner hat es mitbekommen.“ Dörner ist Leiter einer sechsköpfigen Expertenkommission, die das St.-Josefs-Stift, die größte Einrichtung für geistig Behinderte in Unterfranken, selbst eingesetzt hatte. Sie sollte der Frage nachgehen, ob in der bei Würzburg gelegenen Einrichtung illegale Forschungen an nicht einwilligungsfähigen Bewohnern durchgeführt wurden. Die Leitung des St.-Josefs-Stifts reagierte damit letztlich auf den Vorwurf von Eltern und Angehörigen, sie versuche zu vertuschen, dass Humangenetiker der Universität Würzburg eine größere Anzahl der geistig behinderten Heimbewohner heimlich einer genetischen Untersuchung unterzogen haben.
Fast drei Jahre lang hatten Eltern und Angehörige zuvor schon erfolglos versucht herauszufinden, was in der Behinderteneinrichtung tatsächlich geschehen ist. Unzufrieden, ja zum Teil erbost waren einige Eltern auch, weil die Würzburger Staatsanwaltschaft Ende 1999 ein aufgrund einer Anzeige von fünf Sorgeberechtigten eingeleitetes Ermittlungsverfahren gegen drei Humangenetiker der Uni Würzburg einstellte. Argument: ein „strafrechtlich relevantes Handeln“ sei nicht nachweisbar. Lediglich der damals zuständigen Heimärztin Astrid Manß-Harhausen wurde ein Strafbefehl wegen „Verletzung von Privatgeheimnissen“ zugestellt. Ihr wurde vorgeworfen, einer Doktorandin der Uni Würzburg „unerlaubterweise“ persönliche Patientendaten zur Verfügung gestellt zu haben. Die Ärztin legte Widerspruch gegen den Strafbefehl ein. Das Verfahren ist derzeit noch anhängig. Aber selbst wenn die Ärztin verurteilt werden würde, nach Ansicht der Sorgeberechtigten müssten auch die Humangenetiker zur Verantwortung gezogen werden.
Der Würzburg/Eisinger Skandal zieht inzwischen immer weitere Kreise. Nicht nur der bayerische Landtag und die Landesregierung, die bayerische Ärztekammer, die zuständigen Datenschutzbeauftragten, die Deutsche Gesellschaft für Humangenetik und der Ethikbeirat der Bundesgesundheitsministerin haben sich mit den Fall beschäftigt. In der Kritik stehen vor allem leitende Wissenschaftler des Würzburger Instituts für Humangenetik: Institutsvorstand Professor Holger Höhn und der Leiter der Abteilung für Medizinische Genetik, Professor Tiemo Grimm. Diese wehren sich unter anderem mit Unterlassungsklagen gegen Sorgeberechtigte und Zeitungen, die über den Fall berichteten. Sie sehen sich als Opfer einer Kampagne gegen die Humangenetik. Ihre Vorwürfe gegen die Medien reichen von „Ruf- und Kreditschädigungen“ bis hin zu „schwer wiegenden verleumderischen Beleidigungen“. Vier Verfahren wurden inzwischen eingeleitet, eins davon betrifft die taz (siehe Kasten).
Ende Oktober stellte nun die unter dem Vorsitz von Dörner tagende Expertengruppe ihren Abschlussbericht vor, der Anfang nächsten Jahres auch in der schriftlichen Fassung vorliegen soll. In einer zusammenfassenden Erklärung des St.-Josefs-Stifts heißt es dazu: „Zwischen 1995 und 1998 wurden an circa 230 geistig behinderten Bewohnern und Bewohnerinnen des St.-Josefs-Stifts in Eisingen humangenetische Laboruntersuchungen durchgeführt, die Grundlage medizinischer Dissertationen am Institut für Humangenetik der Universität Würzburg waren. In den allermeisten Fällen erfolgten die Blutentnahmen ohne Kenntnis und Wissen der betroffenen Menschen und ihrer gesetzlichen Betreuer.“
Unstrittig sind damit offenbar zwei Sachverhalte: 1. Von den Heimbewohner abgenommene Blutproben wurden zur genetischen Untersuchung an das Humangenetische Institut der Uni Würzburg geliefert. 2. Die Ergebnisse der dort durchgeführten DNA-Untersuchungen sollten unter anderem zur Erstellung von zwei Dissertationen dienen.
Bei der einen Doktorarbeit ging es um den Zusammenhang zwischen einer erhöhten genetisch bedingten Anfälligkeit für die Alzheimer-Krankheit bei Patienten mit Down-Syndrom. Die andere Dissertation beschäftigte sich mit dem „fragilen X-Syndrom“. Für dieses Krankheitsbild, eine bestimmte Form geistiger Behinderung, werden Brüche auf dem Geschlechtschromosom X verantwortlich gemacht.
Streitpunkt ist aber nach wie vor, ob die humangenetischen Untersuchungen ausschließlich für Forschungszwecke durchgeführt wurden. Also nicht medizinisch indiziert waren und nicht dem Wohle oder einer Heilbehandlung der jeweiligen Heimbewohner dienten. Sondern, so die Vermutung einiger Eltern und Angehöriger, dass mit den Gentests „nur“ fremdnützige Forschung verfolgt wurde. Diese könnte zwar zur Aufklärung von Krankheitsursachen beitragen, würde aber nicht unbedingt an der Situation des Getesteten etwas ändern. Die Heimbewohner wären damit nicht mehr Patienten, sondern lediglich Forschungsobjekte.
Diese Frage konnte auch die Kommission nicht abschließend klären. „Vieles spricht dafür, dass die wissenschaftlichen Fragestellungen (also fremdnützige Forschung; die Red.) im Vordergrund standen“, erklärte Professor Wolfgang Höfling, der als Verfassungsrechtler der Kommission angehört. „Eine eindeutige Zuordnung ist nicht möglich“, sagt auch die Tübinger Humangenetikerin Sigrid Graumann. Für sie gibt es aber zahlreiche Hinweise, dass die Untersuchungen stark in Richtung fremdnützige Forschung tendierten. So seien „im Rahmen der Dissertation Laborverfahren entwickelt worden“. Und auch von dem verliehenen Doktortitel hätten die Heimbewohner keinen Vorteil. Das sei klar als ein „fremdnütziges Interesse“ zu werten.
„Ausschlaggebend für die juristische Bewertung“, so Graumann, „sind jedoch die fehlenden Einwilligungen.“ Ähnlich argumentiert auch Höfling: Zwar seien die Übergänge zwischen Heilbehandlung, Heilversuch und dem wissenschaftlichen Experiment fließend und juristisch schwer fassbar. Eine Einwilligung sei aber in jedem Fall unabdingbar. Aufklärung und Einwilligung vor jedem Eingriff seien verfassungsrechtlich geboten. „Und je mehr man sich zu wissenschaftlichen Fragestellungen hin begibt, desto höhere Anforderungen sind auch an die Aufklärung zu stellen“, so Höfling.
Auch wenn vieles bei den Eisinger Vorfällen noch im Dunkeln bleibt, eines ist für die Expertenkommission klar: Weder die mittlerweile nicht mehr am St.-Josefs-Stift tätige Heimärztin noch die Würzburger Humangenetiker hätten das Recht auf Nichtwissen respektiert. Dabei wird doch gerade dieses Recht – wonach niemand gegen seinen Willen einer genetischen Untersuchung unterzogen werden darf – von Politikern, Ärzteverbänden und auch den humangenetischen Berufsverbänden unermüdlich hochgehalten.
Einer der Streitpunkte ist derzeit noch die Frage, von wem die Initiative für die genetischen Untersuchungen ausging und wer für die fehlenden Einwilligungen zur Verantwortung gezogen werden kann. Die Würzburger Humangenetiker stehen auf dem Standpunkt, lediglich beratend und im Auftrag des ärztlichen Dienstes des Heimes tätig geworden zu sein. In einer Eidesstattlichen Versicherung erklärten die beiden Professoren Höhn und Grimm unter anderem: „(...) Blutentnahmen an Bewohnern des Eisinger St.-Josefs-Stifts wurden zu keinem Zeitpunkt durch uns oder Mitarbeiter des Instituts für Humangenetik oder der Abteilung für Medizinische Genetik vorgenommen. Sie erfolgten vielmehr ausschließlich durch und auf Veranlassung des ärztliches Dienstes, und zwar zu diagnostischen Zwecken. Das entnommene Blut wurde dem Institut zur diagnostischen Auswertung zugeleitet. (...)“.
In den mittlerweile zahlreich vorliegenden Prozessakten legen die Würzburger Humangenetiker beziehungsweise deren Anwälte Wert auf die Feststellung, dass die Blutuntersuchungen ausschließlich dem Wohle der betroffenen Heimbewohner dienten. Die Mitarbeiter des Humangenetischen Instituts hätten, „keine wissenschaftlichen Interessen im Rahmen der Zusammenarbeit mit dem Medizinischen Dienst des Behindertenheimes verfolgt“. Auch bei der Frage der Einwilligung fühlen sich die Humangenetiker nicht verantwortlich. Sie behaupten, für die Einwilligung wären nicht sie zuständig gewesen, sondern die behandelnde Ärztin. Dies wird von der ehemaligen Heimärztin Manß-Harhausen, die die Blutentnahmen anordnete, genauso gesehen. Sowohl Manß-Harhausen als auch die Würzburger Humangenetiker verweisen auf den Heimvertrag der Ärztin. Angeblich gestattete er der Ärztin, sowohl medizinische Untersuchungen durchzuführen als auch andere Ärzte beratend hinzuzuziehen, wenn es für die Behandlung der Patienten erforderlich sei. Eine jeweils neu einzuholende Zustimmung der Sorgeberechtigten sei in diesem Fall nicht notwendig gewesen.
Das jedoch wird von der Expertenkommission bestritten. Einen Pauschalauftrag für ärztliche Behandlung kann es ihrer Meinung nach nicht geben. „Gerade bei Gentests“, so Graumann, seien „höhere Anforderungen an die Aufklärung geboten, denn schließlich können von dem Ergebnis auch Familienangehörige betroffen sein“. Hinzu komme noch das Forschungsinteresse, das es nach Meinung von Graumann zwingend erforderlich gemacht hätte, dass die Humangenetiker die Betroffenen selbst hätten aufklären müssen.
Dass in der Würzburger Humangenetik sehr wohl ein Forschungsinteresse im Zusammenhang von Down-Syndrom und Alzheimer-Erkrankung bestand, dafür sprechen Papiere, die erst vor kurzem öffentlich bekannt wurden. Dabei handelt es sich um eine Anfrage, die im Sommer 1997 bei einer anderen Behinderteneinrichtung, dem Dominikus-Ringeisen-Werk im schwäbischen Ursberg, einging. Der Humangenetiker Detlef Schindler bat im Namen des Würzburger Instituts um Zusammenarbeit bei der Klärung der Frage, „warum die Alzheimer-Krankheit bei Personen mit Down-Syndrom so häufig und in so schwerer Weise vorkommt“. Schindler: „Unsere Arbeit ist Grundlagenforschung.“ Grundlagenforschung ist aber etwas ganz anderes als eine medizinisch indizierte Diagnostik, wie es im Fall von Eisingen behauptet wird. Zu der Zusammenarbeit zwischen dem Humangenetischen Institut und dem Ringeisen-Werk kam es nicht. „Denn“, so Rubert Vinatzer von der Ursberger Pflegedienstleitung, „es entstand der Eindruck, dass eine fremdnützige Forschung im Vordergrund steht, weshalb von dem Vorhaben Abstand genommen wurde.“ Ein zu Rate gezogener Vormundschaftsrichter hatte der Anstaltsleitung klar gemacht, dass dieses Forschungsvorhaben auch mit Einwilligung der Angehörigen nicht zulässig ist.
Auffällig ist, dass sich die Projekte in Ursberg und in Eisingen sehr ähnlich sind. „Dies ist exakt dieselbe Fragestellung, welche die Doktorandin an unseren Bewohnern bearbeitet hat“, erklärt dazu der erst vor kurzem neu eingesetzte Geschäftsführer des St.-Josefs-Stifts, der im Unterschied zu seinem Vorgänger bemüht ist, die Vorgänge in der Behinderteneinrichtung rückhaltlos aufzuklären. „Im Gegensatz zu den vielfältigen Beteuerungen der Humangenetiker, dass sie lediglich Diagnostik im Auftrag der Eisinger Heimärztin geleistet hätten“, so Spielmann, werde aus diesen Unterlagen klar ersichtlich, „dass es sich hierbei eindeutig um Grundlagenforschung gehandelt hat“.
Diese Ansicht wird jedoch vom Vorstand der Würzburger Humangenetik nicht geteilt. „Die Anfrage Dr. Schindlers stand im Zusammenhang mit unserem Bemühen um eine verbesserte medizinische Versorgung erwachsener Menschen mit Down-Syndrom“, erklärte Professor Höhn gegenüber der taz. Auf die Frage, ob ein Zusammenhang zwischen dem Vorhaben in der Ursberger Einrichtung und den Blutuntersuchungen in Eisingen bestand, verweist Höhn darauf, dass die Eisinger Blutuntersuchungen „zeitlich vor der Anfrage Dr. Schindlers in Ursberg“ erfolgten. Ein neuer Widerspruch, denn im Sommer 1997, als Schindler in Ursberg seine Bitte vorbrachte, waren, wie die Dörner-Kommission klar feststellte, die Eisinger Untersuchungen längst noch nicht abgeschlossen. Für die Würzburger Staatsanwaltschaft sind die jetzt aufgetauchten Papiere jedoch kein hinreichender Grund, die Ermittlungen gegen die Humangenetiker wieder aufzunehmen.
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