: Das Ich ist ein Dummy
Zwischen Identitätsphilosophie und lebenskluger Albernheit: Der Berliner Super-8-Filmer Michael Brynntrup lädt mit seiner Multimedia-CD-ROM zum Besuch in eine Welt zwischen Privatsphäre, eigenen Arbeiten und interaktiven Beerdigungsfilmen
von DETLEF KUHLBRODT
Es war so ein Tag, an dem die Autos schon um halb zwei mit Licht durch die Gegend fahren und die Kampfhunde auf den Straßen frieren. Eben hatte ich noch mit dem Filmemacherkünstler Michael Brynntrup hin- und hergemailt zwecks einer Verabredung und dann noch mal kurz auf seine Internetseite (http://www.brynntrup.de) geguckt, um gut auf das Treffen vorbereitet zu sein. Auf der Seite des Künstlers, der vor Jahren mal das Leben Jesu mit sich selbst als Hauptperson in neunzig Minuten und Super-8 verfilmt hatte und anderes mehr, gibt es einen Livecam-link. Da konnte ich Michael Brynntrup zusehen, wie er an seinem Schreibtisch in seinem Neuköllner „Studio“ sitzt und fleißig was schrieb. Das war lustig und auch ein bisschen unheimlich, jetzt also in den grau-nassen Nachmittag, von Kreuzberg nach Neukölln zu fahren und den zu treffen, dem ich eben beim Arbeiten zugeguckt hatte.
Über Neukölln sagt man, dass Männer im Schlafanzug vor den Haustüren stehen und trinken wie alle hier. Das ist sicher übertrieben. Wahr allerdings ist, dass es im verrufensten Westteil Berlins Vereine gibt, die „Piraten e. V.“ heißen und im gleichen Haus wohnen wie der Künstler Michael Brynntrup. Ein paar Jahre lang war er der bekannteste Vertreter der Berliner Super-8-Szene, die bis Mitte der 90er-Jahre äußerst aktiv war. Vielleicht wurde er auch nur häufiger rezipiert, weil seine Filme etwas länger waren als die der anderen und mehr wie richtige Kunst mit Schauspielern, Kostümen, identitätsphilosophischen Erwägungen und auch Anklängen an Jean Cocteau daherkamen, ohne allerdings dies gewisse Maß an lebenskluger Albernheit zu entbehren, die die Berliner Super-8-Szene so angenehm gemacht hatte.
Wie auch immer: Brynntrup ist immer noch gut aussehend, hat lecker Kaffee und Kuchen da und sitzt an seinem Schreibtisch wie vorhin in meinem Computer. Er lacht, weil der Live-stream gar keiner war, sondern nur eine Schleife. In letzter Zeit hat er an einer Multimedia-CD gearbeitet, die nun, pünklich zum Weihnachtsrummel, fertig geworden ist. Die CD heißt „NETC.ETERA – der Film zum Film“ und ist sehr schön geworden. „Sie sehen jetzt den ersten Film vom Rest Ihres Lebens“, sagt der Filmer mit norddeutschem Klang in der Stimme in der Eingangssequenz, Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen seien rein zufällig, und „selbst ich sehe in Wirklichkeit ganz anders aus“.
Brynntrup hat sich selbst immer zum Thema gemacht. Sein schwules Begehren, sein Gesicht, seinen Körper, seine Hand, die ins Tagebuch schreibt, sein Zimmer, die Freunde sind das Ausgangsmaterial seiner Arbeiten. Wie andere Schriftsteller und Künstler, die autobiografisch arbeiten, wie jeder vielleicht, der sich zufrieden die Fotos seiner selbst anschaut, ist das bearbeitete Ich eine Art Dummy, den man in die Welt schickt oder im Zimmer lässt. Damit arbeitet man dann irgendwie zwischen existenzieller Biografie und an- und aufgegriffenem Narzissmus. Man kann die CD eine Weile laufen lassen, ohne was zu tun; links sieht man dann das Arbeitszimmer des Künstlers, in dem man rumzoomen kann oder 99 Dinge anklicken, die zu anderem führen. Immer hört man auch die Projektoren rattern oder auch ein bisschen technoide Musik.
Man kann natürlich auch viel herumnavigieren in der kleinen Welt des Michael Brynntrup; irgendwo gibt es einen kleinen, nichtlinearen Mitspielbeerdigungsfilm mit Udo Kier auf dem Berliner Monumentenfriedhof, dessen Dramaturgie man selbst bestimmen kann. Anderswo sind Kurzfilme, Ausschnitte aus Kurzfilmen, Texte und Interviews. Stets obsiegt der Möglichkeitssinn über den Wirklichkeitssinn: „Bei meinen ersten Aufnahmen wollte ich eigentlich nackt vor der Kamera liegen, hatte aber nicht genug Mumm ...“ Oder: „So oder ähnlich könnte dieser Film beginnen.“
So oder ähnlich könnte dieser Artikel enden, wenn da nicht noch Brynntrups sechs umfangreiche Tagebücher wären, in denen man rumblättern kann, ohne sie lesen zu können – der Künstler hat eine schöne Handschrift und viele Bilder dazwischengeklebt – und vor allem kann man sich einzelne Originalseiten auch bestellen. Die bringt dann der Weihnachtsmann. Aber „bitte beachten Sie, dass einige Seiten schon vergeben sind“.
„NETC.ETERA“ für Mac & Windows, absolut MEDIEN, Bestellnummer: 801, ISBN: 3-89848-801-2, 59,80 DM. CD-ROM-Premiere mit dem Künstler am 15. 12., 21 Uhr im Kino Arsenal, Berlin, Potsdamer Straße 2
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