Die Zergliederung von Raum und Zeit

Das Mekka der arabischen Musik liegt am Nil: Frédéric Lagrange widmet sich mit „Al Tarab“ der Klangwelt Ägyptens. Der Orientalist sucht nach den Quellen der arabischen Klassik – für die gegenwärtige Popmusik hat er weniger übrig

Der Begriff „Tarab“ beschreibt jene besondere Ergriffenheit, die Musiker wie Hörer arabischer Musik befallen soll

Mekka liege nicht in Saudi-Arabien, sondern in Ägypten – das behauptet zumindest der libanesische Jazzmusiker Rabih Abou-Khalil in seinem Vorwort zu Frédéric Lagranges Buch „Al Tarab – die Musik Ägyptens“, und meint das nicht in Bezug auf die Religion, sondern auf die arabische Musik. Denn für diese habe Kairo die gleiche Bedeutung wie New York für den Jazz.

Tatsächlich hat Ägypten in den letzten 200 Jahren eine Vorreiterrolle gespielt, wenn es um die Modernisierung des arabischen Musikrepertoires ging. Deshalb ist die Darstellung der musikalischen Entwicklung des Nillandes immer auch ein wenig panarabische Musikgeschichte. In allen Ländern vom Golf bis nach Marokko hat man auf die Nilmetropole geachtet und gelauscht, und ägyptische Musiker wie Muhammad Abd-al-Wahhab oder Umm Kulthum verkörpern die klassisch-medial-unterhaltsame arabische Musik des 20. Jahrhunderts. Auch haben viele Musiker aus der Levante und dem Maghreb erst in Ägypten, der alten arabischen Mitte, Karriere gemacht.

Rang und Namen der ägyptischen Musik haben jedoch nur noch entfernt etwas mit dem zu tun, was unzählige Touristen im Land an der afrikanisch-asiatischen Schnittstelle suchen: Trotzdem geht Frédéric Lagrange als guter französischer Orientalist der Frage nach, ob nicht Schellenklang und Harfenschlag aus pharaonischer Zeit noch in der heutigen koptischen oder oberägpytischen Musik zu hören sind. Es wäre allerdings unfair, solcher Suche nach dem „ewigen Ägypten“ in die Nähe zum Geist der napoleonischen Ägypteninvasion vom Anfang des 18. Jahrhunderts zu rücken, die sehr stark von essentialischer Verklärung geprägt war. Es waren schließlich die ägyptischen Nationalisten des 20. Jahrhunderts selbst, die die Ideologie des Pharaonismus kreierten, um sich zu gleichen Teilen von Europa und den anderen arabischen und islamischen Ländern abzugrenzen.

Frédéric Lagrange geht in seinem Buch nicht nur auf epochale Veränderungen ein, die die Vormachtstellung der ägyptischen Musik bedingen, sondern bedenkt in den ersten beiden Kapiteln seines Buches auch die ländliche und die religiös-rituelle Musik mit der ihr gebührenden Aufmerksamkeit. Denn sie ist es, die lange Zeit ein wichtiges Reservoir für Talente und Ideen der bürgerlich-städtischen Musik darstellte – nicht zuletzt weil sie sich dem Diktat des Musikmarktes entziehen konnte und zum Teil noch kann. Obwohl die verschiedenen Musikstile und -repertoires nur sehr schwer voneinander zu trennen sind, hat Lagrange die ägyptische Musik in die vier typisch musikologischen Kategorien „Ländliche (Volks)musik“, „Religiöse Musik“, „Klassische Musik“ und „Unterhaltungsmusik“ aufgeteilt. Für den interessierten, aber nicht vorbelasteten Leser ergibt sich dennoch ein verwirrender Begriffsreichtum. Aber so ist das nun mal mit wissenschaftlichen Büchern – am Ende kann der Leser dem Objekt des Buches, in diesem Falle dem ägyptischen Musiker, endlich erklären, was dieser da eigentlich macht oder hört.

Auch die Musikauswahl auf der Begleit-CD wurde vom musikologischen Bestreben geleitet, und bietet Raritäten wie die private Aufzeichnung eines Umm-Kulthum-Konzerts in Beirut. Um sich für die ägyptische Musik begeistern zu können, muss man sich aber schon eine ganze Platte von Umm Kulthum anhören und das Buch „Stern des Orients“ von Selim Nassib lesen – eine sehr spannende, teils fiktive Biographie der legendären Sängerin anhand des Lebens ihres sie liebenden Textdichters Ahmad Rami.

Zwei Dinge gelingen Lagrange besonders gut: Zunächst versteht er es, die Grundessenz der arabischen Musik, die melodiöse Ornamentik, einfühlsam zu erklären, macht es doch genau dieses Phänomen nordeuropäischen Ohren bisweilen sehr schwer, ihr zu folgen. Mit der Fähigkeit, Melodien scheinbar unendlich improvisatorisch auszuschmücken, hängt auch der Begriff „Tarab“ zusammen. Er beschreibt das psychologische und philosophische Konzept einer besonderen Ergriffenheit, die Musiker und Hörer gleichermaßen befällt. Den Zustand der gegenwärtigen Musik Ägyptens analysiert Lagrange schonungslos. Das Drama der heutigen Künstler bestehe darin, dass sie die Musik von Muhammad Abd-al Wahhab, Umm Kulthum und anderen, die die klassische arabische Musik mehrerer Jahrhunderte adaptiert und popularisiert haben, als klassisches Vorbild betrachten – dass sie also „das gelungene Unterfangen, mit dem Zeitgeist Schritt zu halten, selbst zum klassischen Erbe zählen“. Die Nachahmung der Vereinfachung aber sei nur noch trivial.

Leider ignoriert Lagrange die über 100 Jahre alte Tradition europäischer Musik in Ägypten. Dazu gehören nicht nur das berühmte Kairoer Opernhaus, die Musikkulturen der vielen mediterranen Bevölkerungsgruppen in Alexandria und Kairo oder mittlerweile viele ägyptische Avantgardekomponisten, sondern auch die Studenten am Kairoer Konservatorium, die – wie die Flötistin Riham Ahmad Abbas – europäische Musik lernen, weil ihre Eltern klassikbegeistert sind. Diese ganz gewöhnliche Ägypterin sagt: „Arabische Musik ist nicht wichtig für mich.“ Für Freunde der ägyptischen Musik ist das Buch von Frédéric Lagrange allerdings wichtig.

VOLKER MICHAEL

Frédéric Lagrange: „Al Tarab. Die Musik Ägyptens“. Mit CD, Palmyra Verlag 2000, 192 S., 39,80 DM