piwik no script img

Im Orkus des Vergessens

Die Angleichung der Kulturen wird meist nur als Verlust beschrieben. Sie ist aber auchein Gewinn: Denn die neue Weltkultur trägt eine allen Völkern verständliche Moral

Der Egoist ist ein Schwein. Da kommt es nicht auf Rassen-zugehörigkeit an

Vor ungefähr zwanzig Jahren klagte der Dichter Peter Rühmkorf darüber, dass seine Gedichte der nachrückenden Generation unverständlich blieben. Wenn er etwa ein Motiv von Eichendorff oder Hofmann von Hofmannswaldau einwebe, merke kein Mensch, dass es sich um ein Zitat handelt. Eichendorff, dachte ich damals, wird ja wohl noch erkannt. Aber Hofmann von Hofmannswaldau (das Haupt der Zweiten Schlesischen Dichterschule) ist wohl auch ein bisschen viel verlangt.

Die Lage hat sich inzwischen noch dramatisch verschlechtert. Die Leute, die „Grüß dich Deutschland, von Herzensgrund“ richtig einordnen können, sind ausgestorben. Mit anderen Worten: Auch Eichendoff ist vergessen, und wer die Zeile irgendwo einbauen wollte, müsste befürchten, dass sie als nationalsozialistisches Gedankengut missverstanden würde.

In diesen Orkus des Vergessens ist ein Großteil der abendländischen Kultur gesunken. Würde ich den Sachverhalt nur bei den Kindern anderer Leute konstatieren, wäre ich vielleicht zum Hochmut verleitet. Aber er betrifft auch meine eigenen Kinder, die ich eigentlich unauffällig von den Brüdern Grimm zu Homer überleiten wollte. Sobald sie die Haustürklinke fassen konnten, sind sie zu anderen Herdfeuern (beziehungsweise Flimmerkisten) entwischt und haben sich über das informiert, was andere Leute wissen: Angefangen mit Sesamstraße über Dschungelbuch bis zu Titanic haben sie die partikular-abendländische Kultur des Elternhauses verlassen und sind zur universalen Weltkultur übergegangen.

Grund zur Trauer? Ganz sicher ist es ein Verlust. Eichendorff wird von einem volkstümlichen Dichter zur Spezialität einiger Hochgebildeter, während Hofmann von Hofmannswaldau ganz auf der Strecke bleibt. Und die Zahl derer, die sein Schicksal teilen, ist Legion. Die Spitzen der Kultur werden gekappt, es tritt eine Nivellierung ein.

Mit anderen Worten: ein Ausgleich. Und dieses Wort klingt schon freundlicher. Max Scheler sagte 1927: „Ist das vergangene Weltalter seiner Grundstruktur nach ein Weltalter stetig wachsender und sich ständig partikularisierender Kräftespannung gewesen [. . .], so erscheint mir als die allgemeinste Formel, unter die man das keimende Weltalter bringen kann, die eines solchen der universalisierenden Kräfteentspannung zwischen den menschlichen Beziehungen – des Kräfteausgleichs.“ Scheler sprach von einem Ausgleich der Rassenspannungen, Ausgleich der Mentalitäten, der Selbst-, Welt- und Gottesauffassungen der großen Kulturkreise, vor allem Asiens und Europas. Ausgleich der Spezifitäten der männlichen und weiblichen Geistesart, Ausgleich zwischen Kapitalismus und Sozialismus und damit der Klassenlogiken und der Klassenzustände zwischen Ober- und Unterklassen. Relativer Ausgleich von Jugend und Alter. Letzten Endes fasste Scheler seinen Gedanken als „Ausgleich zwischen den einseitigen Ideen vom Menschen“ zusammen.

Der Verlust, der mit dieser Angleichung der Kulturen aneinander einhergeht, kann gar nicht überschätzt werden; er muss aber zu dem Gewinn ins Verhältnis gesetzt werden. Für diesen Gewinn besteht meistens zu wenig Gefühl:

Die großartige Tatsache, dass Milliarden von jungen Menschen auf der Welt heute eine gemeinsame Sprache haben, dass sie das Gleiche essen, dass sie die gleiche Kleidung tragen, dass sie die gleichen Wünsche haben, dass sie die gleiche Musik hören, wird nicht ausreichend gewürdigt. Auch wenn man nicht findet, dass Englisch eine schöne Sprache, dass Hamburger ein gutes Nahrungsmittel, dass Jeans eine attraktive Kleidung sind; auch wenn man ein Handy nicht für lebensnotwendig hält und Techno für ruhestörend: Die Universalisierung des Geschmacks, die einheitliche Herausbildung eines Menschentyps („der Ausgleich der einseitigen Ideen vom Menschen“) ist eine Veränderung, von der alle Chancen ausgehen, die die Menschheit überhaupt hat.

Der Vorgang der Nivellierung der Weltkultur ist weitgehend ein Vorgang der Amerikanisierung. Warum haben die jungen Vietnamesen kürzlich Clinton zugejubelt? Das war keine Ovation an das amerikanische Volk, dessen Übergriffe nicht vergessen sind. Das war eine Ovation an den in Clinton verkörperten universalen Menschentyp, an die Lebensweise, die „American way of life“ heißt, die aber tatsächlich eine im Schmelztiegel entstandene Mischform ist, die alle Völker anzieht.

Diese Universalkultur ist keineswegs identisch mit der male, white and middleclass-Kultur puritanischen Typs. In den Esprit, den das Coca-Cola-Zeichen trägt, sind auch afrikanische und lateinamerikanische Elemente eingegangen. Sie können wegen der großen Bedeutung der Weltmusik für das Weltlebensgefühl eine starke Wirkung entfalten.

Zunehmend machen sich aber auch asiatische Einflüsse geltend. Die Ästhetik zeigt immer mehr ostasiatische Motive. Ostasiatische Gesichter erscheinen in der Werbung. Nicht nur in die oberen, sondern auch in die unteren Schichten – und das heißt, in die Massen – dringt der Buddhismus ein. Sollen wir unsere Kinder von dieser Weltkultur fernhalten? Gibt sie der Menschheit nicht vielleicht eine größere Chance als Eichendorff und Hofmann von Hofmannswaldau zusammen? Diese beiden haben Deutschland nicht vorm Faschismus bewahren können. Er konnte sie sogar gefahrlos pflegen.

Die wirklich populären Werke der Weltkultur, die großen, weltweit gesehenen amerikanischen Filme tragen eine allen Völkern verständliche, richtige Moral weiter. Gut und Böse sind dort unter universalistischen Standards richtig geordnet. Der Egoist ist ein Schwein, auch wenn sein Kragen noch so weiß ist. Wahre Liebe verdient, wer gut ist. Da kommt es nicht auf Rassenzugehörigkeit noch auf soziale Schicht an. Freund und Feind verbinden und trennen sich jenseits der traditionellen Kollektive.

Die Universalisierung des Geschmacks ist eine Veränderung, die alle Chancen eröffnet

Alle Menschen dieser Erde können sich auf diese individuierte Moral in einer gemeinsamen Bilderwelt einigen. Wenn man den Ausgleich will, dann muss man ihm Opfer bringen, bittere Opfer an Partikularkultur. Und man muss ihn wollen. Scheler sagte: „Wer sich dagegenstemmt, wer irgendein so genanntes ,charakteristisches‘, ,spezifisches‘ Ideal des Menschen kultivieren will, ein historisch schon plastisch geformtes – er wird in die Luft stoßen.“

Ich fühlte mich ein bisschen unverstanden, als mir mein achtzehnjähriger Sohn in diesen Tagen Harry Potter zum Geburtstag schenkte. Aber ich will mich daran machen. Seid umschlungen, Millionen.

SIBYLLE TÖNNIES

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen