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Entdecken Sie die Solidarität! Mit Christine De Smedts Tanzperformance „9 x 9“wurde die Schaubühne ihrem Anspruch gerecht, eine offene Werkstatt zu sein

Die Schaubühne wird gestürmt. Während die Zuschauer im Saal A schon sitzen und warten, sammeln sich auf dem Kurfürstendamm 9 x 9 Freunde in weißen T-Shirts und betreten entschlossenen Schrittes das Theater. Eine Videokamera schickt davon Bilder nach innen, bis die großen Flügeltoren aufbrechen und die Masse sich in den Raum ergießt.

So begann die Performance „9 x 9“, die in einem Workshop der belgischen Choreografin Christine De Smedt entwickelt wurde. De Smedt gehört zur Gruppe „Les Ballets C. de la B.“, für deren aufregendes Gastspiel „Iets op Bach“ die Schaubühne gleich dreimal so viel Karten hätte verkaufen können.

Doch bei Improvisationen ist das Publikum vorsichtiger. Selbst bei den „Dialogen“, in denen Sasha Waltz Anfang Dezember mit Tänzern und Musikern aus den USA jeden Abend eine andere Form entwickelte, gab es noch freie Plätze. Umso höher ist es dem Theater anzurechnen, sich auf diese unwägbaren Projekte einzulassen. „9 x 9“ ist wie ein Kettenbrief organisiert. Christine De Smedt hat 9 Künstler und Tänzer eingeladen, mit jeweils 9 weiteren Darstellern das Thema „Kollektiver Körper“ zu bearbeiten. In jeder Stadt verändert sich das Projekt, das bisher schon in Paris, Gent und Rotterdam zu sehen war. Es knüpft an den Traum von der Kunst als Massenereignis an, zitiert Agitprop und Happening mit Witz und findet im Ganzen zu einer Form, die den Wunsch nach Verschmelzung und Aufgehobensein von heute aus in den Blick fasst: als ein Bild, das umso romantischer aufscheint, je mehr die Vereinzelung fortschreitet.

Fast alle Szenen entwickeln sich aus einer Bewegung, die ohne Zentrum und ohne hierarchische Ordnung auskommt. Die Teilnehmer scheinen viel weniger gesellschaftliche Organisationsformen zu spiegeln als vielmehr physikalischen Kräften der Streuung und Verdichtung zu folgen. Sie liegen und rutschen über die Erde wie eine langsam erwachende Herde Robben oder flitzen und wirbeln durcheinander. In anderen Momenten legen sie sich wie Pinselstriche nebeneinander und bilden dicht gedrängt einen ruhigen Strom, dann wieder steuern Geometrie und Regeln von Stop and go ihren Verkehr wie die Mechanik einer Maschine.

Neben Schauspielern und Tänzern der Schaubühne waren auch Künstler aus anderen Berliner Gruppen an „9 x 9“ beteiligt. Nach der langen Tanznacht in der Akademie der Künste vor einer Woche und dem Netzwerk E.X.T.E.N.S.I.O.N.S im Podewil erweckt diese dritte Freundschaftsveranstaltung im Tanz innerhalb kurzer Zeit ein seltsames Gefühl: Entdecken sie die Solidarität wieder, basteln sie an der globalen Großfamilie? Unterschiedlichen Quellen und Motiven entsprungen, unterspülen jedenfalls all diese Projekte die institutionalisierten Formen der Kulturarbeit.

KATRIN BETTINA MÜLLER

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