strafplanet erde: brechmittel in wolfsburg
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von DIETRICH ZUR NEDDEN

„Auf in den Kampf!“, sagt der Chefredakteur in Eric Amblers „Eine Art von Zorn“ zu einem Reporter: „Und nehmen Sie einen Schluck positives Denken.“ Daraufhin der Ermunterte: „Alles, was ich jetzt brauche, ist ein Brechmittel.“ Abgesehen davon, dass „Ein Stück weit Zorn“ der apartere Buchtitel gewesen wäre; abgesehen davon, dass zur Überraschung aller das Schreckens-Tandem „positives Denken“ schon spätestens 1975, dem Erscheinungsjahr der deutschen Übersetzung, kursierte, bleibt drittens das Brechmittel.

Das bot geradewegs eine Sonntagszeitung mit der Überschrift „Alters-Gen entdeckt: Werden wir alle 450?“ und dem direkt darunter prangenden, in den Textblock ragenden Grinse-Pöter Hahne. Ist der nicht erst neulich 153 geworden? Er schreibt jedenfalls so. An seinem oder meinem 320. Geburtstag werden dann die Wissenschaftler, die nun unter Drosophila-Exemplaren fündig geworden sind, sich fragen, ob das alles so richtig war. Sollten wir nicht endlich über die Ethik in den Naturwissenschaften diskutieren? Ein andermal.

Völlig in Ordnung dagegen die beinahe unbemerkt gebliebene Aktion des DFB vom vergangenen Wochenende. In den Stadien der Republik zeigten „Spieler, Schiedsrichter, Trainer, Funktionäre und die Fans“ nicht Gesicht noch Zivilcourage, sondern die Rote Karte. Nicht irgendwem, sondern dem Rassismus, dem Rechtsextremismus und der Gewalt. Niemand erwähnte, wie lange die drei gesperrt worden sind, ob für zwei oder sogar sechs Spiele. Und weshalb? Wegen unfairen Spiels oder doch grober Unsportlichkeit? Und dann dürfen sie wieder mitspielen?

Mit der Sorte rhetorischer Fragen bestreiten manche Kabarettisten ganze Abende, und die Rote Karte sollte wahrscheinlich bloß eine Metapher, ein Symbol, ein Weihnachtsmärchen sein. Aber beispielsweise in Wolfsburg, das bis 1945 „Stadt des KdF-Wagens“ hieß, ergaben sich anlässlich dieses gesellschaftspolitisch nicht hoch genug einzuschätzenden Ereignisses kuriose Situationen. In Wolfsburg wird vor jedem Bundesligaspiel nämlich das Niedersachsenlied abgesungen. Gern singen viele Fans mit: „Wo fiel’n die römischen Schergen? / Wo versank die welsche Brut? / In Niedersachsens Bergen, / An Niedersachsens Wut. / Wer warf den römischen Adler / Nieder in den Sand?“ Die sturmfesten, erdverwachsenen Niedersachsen selbstverständlich. Komponiert und getextet hat das Stück um 1927 der Musiklehrer Hermann Grote, ein Sozialdemokrat. Als „Stammeslied“ stand es ein Jahrtausend lang in den SA-Liederbüchern. Beim NDR existiert seit 1991 ein Sendeverbot für die gesungene Fassung. Nun will ich ungern als Gutmensch verdächtigt werden, auch keine liebgewonnenen Traditionen zerstören, vor allem wenn jemand sonst keine hat, fragte aber doch mal nach bei der Medienbeauftragten des VfL. Ja, ja, man wisse um den heiklen Text, man würde bereits diskutieren, ob man nicht, aber die Fans ...? „Aus der Väter Blut und Wunden wächst der Söhne Heldenmut“, heißt es in der vierten Strophe, und das zeigt: Brechmittel gibt es mehr als genug.