: Die Tücken des Internet
■ Daniel Harding, Lars Vogt und die Kammerphilharmonie brillierten mit etwa 25-stündiger Verspätung in der Glocke
Junge, reife Klassik – mit diesem absatzorientierten Spruch lockte die Internet-Homepage der Deutschen Kammerphilharmonie Bremen ihr Publikum zum Ausgang der letzten Adventswoche in die Glocke. Wie alle Reklamesprüche, insbesondere die im Internet, enthielt er nur die halbe Wahrheit, der Rest war falsch. Klassisch ist die vorgesehene Suite von Jean-Philippe Rameau sicher nicht. Zum angekündigten Zeitpunkt am Freitag Abend waren darüber hinaus weder die Kammerphilharmonie noch das Publikum erschienen. Das war eigentlich kein Wunder, weil die Homepage das Orchester zum gleichen Zeitpunkt auf Tournee in Luxemburg sah. Offenbar war der Rezensent der einzige Internet-User. Von einem freundlichen Herrn wurde er auf den nächsten Tag vertröstet.
24 Stunden später war zwar das Publikum da, das Orchester befand sich jedoch witterungsbedingt (Nebel in Dijon?) noch auf Tournee. Es kam kurz vor neun.
Ein netter Herr nutzte die Wartezeit, um ins zu erwartende Programm einzuführen. Er blieb weitgehend ungehört, da die mit Sekt auf Kosten des Hauses versüßte Wartezeit Gelegenheit gab, ein bisschen zu plaudern und zu ermitteln, wer alles noch nicht zum Wintersport gefahren ist. Und so nahm der leicht verwirrte Rezensent erst bei den ersten Takten des Mozart-Klavierkonzertes wahr, dass nicht nur Termin und Klassik falsch waren, sondern auch noch das Attribut „jung“ im Motto des Abends gestrichen wurde: Statt des „Jungmann“-Konzerts, KV 271, mit dem der noch jugendliche Meister von seiner Zeit als Unterhalter höfischer Kreise konsequent Abschied nahm, erklang eins seiner letzten Klavierkonzerte: c-moll KV 491.
Nun endlich war der Rezensent im Bilde: Es gab Gereiftes von älteren Komponisten einem reifen Publikum präsentiert von durchweg jungen Künstlern.
Nach einer klanglich und rhythmisch reizvollen Suite aus einer Oper von Rameau griff Lars Vogt, der schon das kammerphilharmonische Jahr eingeleitet hatte, in die Tasten. Der Rezensent sah dies zunächst durchaus mit Sorge: Wie sollte der für seinen „heilig-nüchternen“ Zugriff auf das klassische Repertoire bekannte Pianist mit Daniel Harding harmonieren, der – wie zuvor beim netten Rameau erfahren – kaum eine musikalische Phrase, und sei sie noch so schlicht, unmodelliert in den Konzertsaal entwischen lässt. Doch schon der erste Klaviereinsatz zeigte: Es funktioniert prima.
Während der Dirigent mit dem sich höchst konzentriert vom Tourneestress befreienden Orchester den eigentümlichen Kontrast des ersten Satzes zwischen swingendem 3/4 Takt und depressivem Grübeln zum hochdramatischen Geschehen verdichtete, schien sich Lars Vogt mit einem distanzierten, analytischen Kommentar dem tragischen Sog entziehen zu wollen. Dabei entstanden trotz großer Orchesterbesetzung Momente höchster kammermusikalischer Intensität und Intimität, die insbesondere im zweiten Satz das Auditorium zu atemlosem Zuhören zwangen. Der beglückte Seufzer „ach, wie schön“, den ein sentimental aufgeladener Mozart dem Publikum üblicherweise entlockt, blieb aus. Die Beklommenheit löste sich erst mit einer Zugabe der besonderen Art. Lars Vogt spielte mit vier Streichern des Orchesters das Scherzo aus Dvoraks A-Dur-Klavierquintett. Perlend und virtuos dargeboten, machte es die Zuhörer wieder pausen- und sektfähig.
Danach ließ uns Lars Vogt mit Daniel Hardings Gestaltungsdrang allein. Dessen flott genommene Einleitung zum 1. Satz von Beethovens reifer, doch jugendlichen Drang kaum bändigender 7. Sinfonie versprach einen ganz und gar unweihnachtlichen, aggressiven Beethoven. Doch später setzte der junge Meister am Pult eher auf festgerechte Mäßigung. Präzise durchgearbeitet, die Details akkurat ziselliert, Klangballungen durchhörbar gemacht, die Spannungsbögen wirkungsvoll gestaltet und allzu forsches Geschmetter klug in Schach gehalten, erklang Beethoven an sich schwindlig machende Sinfonie als Werk der reifen Vollendung, nicht mehr jugendlich, aber immerhin Jugend eindringlich in Erinnerung rufend.
Trotz der vorgerückten Stunde dankte das Publikum mit nachdrücklich vorgetragenem, lang anhaltendem Beifall. Mario Nitsche
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