: Sound der Einfühlung
Von diesem Schriftsteller kann es keinen Satz zu viel geben! Insofern sind die nun zum erstenmal ins Deutsche übersetzten frühen Erzählungen von Anton Tschechow ein Glücksfall: „Ein unnötiger Sieg“
von ELKE SCHMITTER
Da ist er, der Ton! „Wie hübsch erschien sie ihm, beleuchtet von den Strahlen der untergehenden Sonne!“ Da ist der deutsche Tschechow-Ton, der Urban-Tschechow-Ton, und wie schön erscheint er uns, wie richtig und wie angemessen, aber worin genau besteht er? „Wir machen so weiter wie bisher, sagte Liza. – Soll er es selbst herausbekommen, wenn er will.“
Es hat etwas mit der Wortstellung zu tun, mit einer kargen, beinahe kantigen Melodei, mit etwas, das abrupt ist, beinahe unbeholfen, und doch sehr schön ... Also, davon kann es keinen Satz zu viel geben!
Insofern ist Erfreuliches anzuzeigen: Der Diogenes Verlag hat es unternommen, uns das früheste Frühwerk von Anton Tschechow zugänglich zu machen. Genauer: ein Splitterchen davon. Denn was allein der junge Mann zu Papier brachte, als Medizinstudent in Moskau, abgehetzt zwischen Vorlesungen, Freundestreffen, Familienarbeit, den Kopf in die Handschale gestützt, des Nachts, wenn alle schliefen, oder des Morgens oder Abends, während um ihn herum zu viele Menschen aßen, tranken, sangen, sprachen, sich zankten, politisierten – was allein der junge Mann zu Papier brachte, umfasst sehr viele hundert Seiten. Alles ist veröffentlicht worden, sofort – in literarischen Zeitschriften, in großen Zeitungen, als Glosse oder Kurzgeschichte, als so genannte Humoresken, kleine Romane und so weiter.
Aber der spätere Tschechow (denn einen späten gab es ja nicht, und dabei hätte er – mit Ernst Jüngers Kondition – Marilyn Monroe noch bewundern können) hat vieles wieder aussortiert, sprich: in seine Gesammelten Werke, die er nicht lange vor seinem Tod pauschal an den Verleger Marks verkaufte, gar nicht erst aufgenommen, so auch Geschichten dieses Bandes.
Manchmal will man ihm Recht geben. Es gibt zwei kurze Romane in der Sammlung „Ein unnötiger Sieg“ (darunter der titelgebende), die von Tschechow wenig verraten als – doch allerdings und immerhin, wie Mynheer Peeperkorn sagen würde – die frühe Virtuosität eines Genies, das einfach nicht alles verderben kann, selbst wenn der Stoff, die Durchführung, die Pointe Durchschnitt sind. Sogar bei einem Romänchen, dessen Verfertigung auf eine Wette zurückgeht und das aus wenig mehr besteht als einer seriellen Verwicklung, die in der Mitte durchhängt wie ein uralter Dackel, selbst bei einer solch missratenen Studentenposse sind Tschechows Charaktere so gezeichnet, dass man sie doch nicht ganz vergisst, auch wenn man sich’s vor lauter Ärger beinahe vornahm.
Aber das andere! Das andere ist reiner, bester Tschechow, erster Aufguss oder auch allererste Sahne, und es ist alles da: die Kürze und die Eleganz, die trockenen Dialoge, der tiefe und „zutiefst menschliche“ Witz, die leise, permanente Ironie, die niemals auf die Nerven fällt, weil sie nicht Pose ist, nicht Paravant vor der Verachtung, sondern Belustigung, welche auch die des Selbst mit einschließt.
Wir haben Tragikomik, erste und auch letzte Lieben, Gesellschaft in vielen Facetten, und wir haben, mit der ersten Geschichte, einen Einblick in die Herrschaftsformen Russlands nach der Befreiung der Leibeigenen, der sich an Brutalität und Tragik, Verknappung und Eindrücklichkeit durchaus mit dem „Woyzeck“ messen kann. Und wir erleben außerdem noch eine Überraschung: nämlich deutlich zu lesen, dass der jetzige Klassiker Tschechow auch einen väterlichen Anteil hat an jenen Formen der russischen Literatur, die wir als Avantgarde kennen. Sein skurriler Humor, seine stilistische Kühnheit, seine Aus- und Einfälle ins Abstruse, Abgründige, leiten direkt zu Daniil Charms et alii.
„Wir machen weiter wie bisher“, sagt Lisa, die ihren Mann betrügt: „Soll er es selbst herausbekommen, wenn er will.“
Es ist ja nicht nur der Stil: Es ist dieses Genie der Einfühlung. Was dieser junge Mann seine Figur Lisa (im Übrigen eine Gans) hier sagen lässt, ist ja schon wieder altersweise: die beiläufig erzählte Einsicht, dass Menschen immer nur erfahren, was sie denn auch erfahren wollen. Tschechow macht daraus keine Abhandlung; er weiß es, und was er weiß, das sagt er – kurz.
Was für ein Glück, dass er zwar kurz, aber auch viel geschrieben hat.
Anton Tschechow: „Ein unnötiger Sieg – Frühe Novellen und kleine Romane“. Deutsche Erstveröffentlichung. Aus dem Russischen von Beate Rausch und Peter Urban. Diogenes Verlag, Zürich 2000, 354 Seiten, gebunden, 44,90 DM
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