: Engel und Kugelmenschen
Die 10. Tanztage begannen mit einer wandernden Klangskulptur vom Pfefferberg in die Sophiensäle. Das Programm bietet eine hochspannende Mischung aus Debüts, Gastspielen und alten Bekannten
von KATRIN BETTINA MÜLLER
Selten wirkt die Stadt so verschlafen wie am frühen Neujahrsabend. Die letzten Silvesterböller sind verschossen und das Eis der Gehsteige glatt poliert. So kommt es, dass fast niemand dem seltsamen Zug begegnet, der von Klangwellen geschoben vom Prenzlauer Berg hinab in die Sophienstraße rollt. Es läutet wie zum Almabtrieb, es sirrt und schwirrt wie von himmlischen Stimmen und klirrt scharf wie die Winde im Palast der Schneekönigin. All diese Töne der Kälte, der Ferne und der Nacht kommen aus den tragbaren Kassettenrecordern, für die Phil Kline den Neujahrs-Umzug komponiert hat. Wer sich dem Zug anschließt, wird von den wandernden Stimmen eingesponnen und mitgezogen bis zu den Sophiensälen.
Phil Kline, der seine beweglichen Kompositionen bisher vor allem in New York zur Weihnachtszeit zum Einsatz gebracht hat, ist zum zweitenmal Gast der „Tanztage“. Die wurden von Barbara Friedrich bisher neunmal im Pfefferberg organisiert; doch weil dort in diesem Jahr die Sanierung beginnt, hat sie sich nach einem Ersatzort umgesehen. In den Sophiensälen fand sie nicht nur eine ideale Atmosphäre, sondern auch einen mutigen Mitveranstalter, um das Programm mit jungen Choreografen und hier fast unbekannten Gastspielen fortzusetzen. Bis zum 17. Januar zeigen sie im Festsaal und im Hochzeitssaal 16 verschiedene Produktionen.
Nicht nur Phil Kline hat aus der Not der Produktionsbedingungen sein kompositorisches Thema gewonnen. Auch Tamarah Tossey, Gast aus Amsterdam, nimmt das Motiv des Umzugs, das fast jede tänzerische Biografie auf der Suche nach guten Schulen und interessanten Engagements prägt, zum Anlass einer Choreografie. Was schleppt man mit, was bleibt zurück, fragt sie in ihrem Stück „Move“, das zusammen mit Produktionen von Gerhard Maass und Jonna Huttunen die Tanztage eröffnet.
Besonders stolz ist Barbara Friedrich auf das Gastspiel „Hopeless Games“, eine Koproduktion des Do Theatres Petersburg und der Fabrik Potsdam. Vor allem in England und Schottland wurde „Hopeless Games“ gefeiert und auf dem Theaterfestival in Edingburgh ausgezeichnet. Die clowneske Körpersprache, mit der sich Tänzer und Schauspieler über die russisch-deutsche Sprachgrenze hinweghelfen, scheint die angelsächsische Liebe für das Abgründige gut zu treffen. Auf einem verlassenen Bahnhof spüren sie den Echos der jüngsten Katastrophen Europas nach, denn alle Figuren erinnern an Geister, Flüchtlinge, Außenseiter und gefallene Engel.
Christoph Winkler, der auf den Tanztagen schon in vielen kurzen Stücken seine choreografische Sprache geschliffen hat, zeigt erstmals ein längeres Stück, das von Nicole Baumann und Ingo Reulecke getanzt wird. „The Wandering Problem“ verfolgt Rastlosigkeit und Unruhe, die zunächst noch als Überanpassung an die geforderte Flexibilität des Alltags erscheinen mögen, bis in die Bereiche der Selbstzerstörung und Krankheit. Man kann gespannt sein, wie sie das Bewusstsein von der großen Historizität der Tanzformen für die Beschreibung jener Zustände nutzen, in denen Körper und Verstand auseinander treten und nichts mehr innere und äußere Form zusammenhält.
Schon immer hat sich Barbara Friedrich unter den Absolventen der Choreografie-Klasse der Hochschule Ernst Busch umgesehen. Dort entstand als Diplomarbeit der brasilianischen Choreografin Lilian Graca „Flucht“ nach einer Erzählung von Clarice Lispector. Eine zweite Diplominszenierung kommt von der Palucca Schule in Dresden. Die jungen Tänzerinnen aus Australien, Brasilien und Deutschland, die mit „Wodka Kola“ von Anne Retzlaff auf die Bühne kommen, haben ein bis acht Jahre lang an der Palucca Schule gelernt. Über solch ein homogenes Training verfügen die oft nur für eine Produktion gebildeten Compagnien der freien Szene fast nie.
Auf einen längeren Weg als Tänzer an städtischen Bühnen können Hans-Werner Klohe und Detlev Alexander zurückblicken, die sich mit dem Duett „zweiFall“ selbstständig machen. Sie greifen die Idee vom Kugelmenschen auf, der ursprünglich vier Hände und ebenso viele Beine hatte und in großer Eile über die Erde rollte. Doch weil er es mit den Göttern an Kraft aufnahm, so wird in Platons „Symposion“ erzählt, teilte Zeus ihn in zwei Hälften, die seitdem einander sehnsüchtig suchen. Dass die Tanztage mit der Trennung vom Pfefferberg in eine ähnliche Identitätskrise geraten, ist nicht zu befürchten.
Tanztage, 3. bis 17. Januar in den Sophiensälen, Sophienstraße 18, Mitte, Kartentelefon 2 83 52 66
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