Das Glück dauert 90 Minuten

Isabel Coixets Film „Things I Never Told You“ erzählt viele kleine Geschichten von Menschen, die getrieben sind vom Leben und sich trotzdem immer wieder auf die Suche nach Nähe machen. Eine Liebeserklärung sowie die Geschichte einer Liebe, die erst nach fünf Jahren ihre Erfüllung gefunden hat

von THOMAS WINKLER

Wie das so ist mit der Liebe, vor allem der unerfüllten: Je länger die Erfüllung auf sich warten lässt, desto größer wird sie, die Liebe. Manchmal kann es aber auch passieren, dass man sich verliebt in einen Film. Das Wunderliche ist: Auch die Liebe zu einem Film kann unerfüllt sein.

Vor fast fünf Jahren habe ich mich in „Things I Never Told You“ verliebt. Und das kam so: Die Berlinale kann, nimmt man das Filmesehen ernst und lässt die vielen Partys links liegen, mitunter eine einsame Angelegenheit sein. Dauermüde schleppt man sich von Kino zu Kino, von mittelmäßigem zu halbschlechtem Film, und wenn man Pech hat, trifft man den lieben, langen Tag keine einzige bekannte Menschenseele. Nicht dass ich mich beschweren möchte – die Berlinale ist ein zehn Tage dauernder, wundervoller Ausnahmezustand, kann aber, wie gesagt, mitunter recht einsam sein.

In diesen Tagen passt man sein Leben dem Rhythmus der Filmfestspiele an. Wenn man konsequent fünf oder sechs an einem Tag sieht, dann ergibt sich zwangsläufig ein Art Trancezustand, in dem das Kino das eigene Gefühlsleben mehr und mehr ersetzt. Diese emotionale Abhängigkeit kann ziemlich frustrierend werden, wenn die Filme nicht so toll sind, was nicht so selten der Fall ist.

Dann aber gibt es so einen Film, von dem man nichts erwartet hatte, der nur so am Wegesrand stand, als Überbrückung zwischen zwei anderen Filmen. Ein kleines Independent-Filmchen aus Spanien, in den USA gedreht mit Lili Taylor, die man in „Arizona Dream“ als Tochter von Faye Dunaway schon ganz einzigartig fand. Aber auch mit diesem unsäglichen Andrew McCarthy, der bislang nur durch sein Milchbubiaussehen und einer schrecklichen Rollenauswahl glänzte.

Das Kino ist also eher leer als voll, die Erwartungen gleich null, und dann geht das Saallicht aus. Die ersten Bilder sind ruhige Tableaus von Landschaften und Körperteilen, und aus dem Off fragt McCarthys Stimme: „Alles kann passieren, oder?“ Ein paar wenige Momente später ist genau das wahr geworden. Man ist mitten drin, ohne dass man genau erklären könnte, warum, und es lässt einen nicht mehr los.

Taylor wird am Telefon von ihrem Freund verlassen, findet sich allein in einer depremierenden Kleinstadt wieder und gießt sich prompt ein Fläschchen Nagellackentferner in den Mund, den sie eher aus Versehen verschluckt, als dass sie wirklich hätte Selbstmord begehen wollen. McCarthy arbeitet bei der Telefonseelsorge Hopeline, und so sprechen sie zum ersten Mal miteinander. Später erkennt er ihre Stimme beim Kauf einer Polaroid-Kamera und folgt ihr in den Waschsalon. Schließlich stellen sie beide fest, dass Sonntage grauenhaft sind, wenn man allein ist. Deshalb halten sie sich sehr fest, während die Sonntagssonne durchs Fenster scheint.

So hält auch dieser Film seine Zuschauer umfangen, auf eine vorsichtige, liebevolle Art, wie eine Umarmung unter Liebenden an einem melancholischen Morgen. Es passieren noch mehr Geschichten in diesem Film, die mit der von Lilis und Andrews Charakteren verwoben sind. Viele kleine Geschichten von Menschen, die getrieben sind vom Leben, wie es auch im echten Leben so ist, und die trotzdem immer auf der Suche sind nach Nähe, wie das ja auch im echten Leben so ist.

Keine der Geschichten ist so richtig spektakulär, aber alle so respektvoll und mit Liebe erzählt, dass sie einen wahrhaftig rühren – und was kann man schon Schöneres über das Kino sagen, als dass es einen rührt? Echte Wahrhaftigkeit, das lehrt einem dieser Film, ist unaufdringlich und schnörkellos. Außerdem: Wer nach diesem Film nicht in Lili Taylor verliebt ist, hat kein Herz. Wer Andrew McCarthy von nun an nicht wenigstens sympathisch findet, hat kein Mitleid. 90 Minuten lang ist „Things I Never Told You“. Nur. Ein kurzes Glück, aber ein Glück.

Als das Saallicht wieder anging, war es grell und blendete. Dann bekam die Regisseurin Isabel Coixet von einem halb vollen Kino den wärmsten Applaus in der Geschichte der Berlinale. Anschließend erzählte sie in Englisch mit einem lustigen spanischen Akzent die verwickelte Entstehungsgeschichte des Films und von den Dreharbeiten, die natürlich durch ein Minimalbudget eingeschränkt waren. Danach bekam sie einen noch herzlicheren Applaus.

Dann musste ich raus auf einen nasskalten, mitternächtlichen Ku’damm und wollte schnellstens heim, zur Liebe, um ihr ins Ohr zu flüstern, noch einmal und unbedingt, dass ich sie liebe. So etwas macht dieser Film mit dir. Er erinnert dich an die Liebe. Eine sehr wichtige, ehrenvolle Aufgabe.

Die folgenden fünf Jahre habe ich damit verbracht, zu hoffen, dass „Things I Never Told You“ verdientermaßen endlich ins Kino kommt. Die fsk-Leute, die sich ebenso verliebt hatten wie ich, haben fünf Jahre versucht, „Things I Never Told You“ ins Kino zu bringen. Jetzt haben sie es geschafft. Dankt es ihnen. Lasst euch erinnern. Geht ins Kino. Verliebt euch.

„Things I Never Told You“, Regie: Isabel Coixet. Mit Lili Taylor, Andrew McCarthy, Alexis Arquette, Spanien/USA 1995, 93 Min. Ab heute tgl. 20 Uhr u. 22 Uhr, fsk, Segitzdamm 2, Kreuzberg