: Über den Mediamarkt-Diskurs hinaus
Alle reden vom Computer. Dabei funktioniert doch das Telefon als Basiswerkzeug noch der neuesten virtuellen Räume. Ein Sammelband erläutert die Kulturgeschichte dieses Kommunikationsmittels und seine kleinen geteilten Welten
Vilém Flusser schrieb einmal: „Das Telefon ist ein Medium, dessen Gegenwart vorläufig nie vergessen wird.“ Wie auch immer er sein „vorläufig nie“ wohl gemeint haben könnte, heute liegen die Dinge anders. Es klingelt auf Schreibtischen, in Fluren, in Jackentaschen; ob man Faxe verschickt oder E-Mails, ob man dem Volkssport SMS nachgeht oder Webseiten anguckt – immer steckt ein Telefon dahinter. Und dennoch: Wer über die neuen Kommunikationsverhältnisse nachdenkt, redet vom Computer.
Mitten in dieser eigentümlichen Telefonvergessenheit erscheint ein neues „Telefonbuch“ – nein, kein Wälzer mit Namen- und Zahlenkolonnen, den Marcel Reich-Ranicki bewerben könnte, sondern ein kulturgeschichtlicher Sammelband. Stefan Münker und Alexander Roesler, die Herausgeber, wollen an jenes Gerät erinnern, das einmal Fernsprecher hieß, denn das „klassische Telefon, das wir noch kennen, (wird) in Bälde verschwinden“, meinen sie. Ließen sie es dabei bewenden, wäre der Band wenig mehr als ein weiteres Exemplar aus dem überstrapazierten Genre ultimativer Abschiedsgesänge. Aber ihr Erinnern hat noch einen anderen, weniger nostalgischen Sinn: Sie rufen etwas ins Gedächtnis, das, gerade weil es nah und allgegenwärtig ist, umso leichter übersehen wird. Das Telefon, so die Ausgangsthese des Bandes, funktioniert als „Basiswerkzeug“ noch der neuesten virtuellen Welten.
Der Grund dafür liegt nicht nur in der Tatsache, dass jeder Computer erst einen Anschluss braucht, bevor er die Reise ins Internet antritt. Vielmehr erzeugt jedes Telefonat selbst schon einen virtuellen Raum, wie Münker in seinem Beitrag zeigt. Dabei stellt er klar, dass der oft behauptete Gegensatz Virtualität/Realität keiner ist: „Wir sind, auch wenn wir im Zustand der Telepräsenz virtuell agieren, reale Personen, die miteinander [...] natürlich anders als in Face-to-face-Kommunikationen, aber deswegen noch lange nicht weniger authentisch interagieren.“ Wie dieser Zustand genau beschaffen ist, gibt das Medium vor. Es schafft eine kleine Welt, die der Anrufer nur mit dem Angerufenen teilt. Beide Teilnehmer sind dort „bloße Stimme“ (Marcel Proust), ihre Körper, Mimik und Gestik bleiben auf Distanz. Das Telefon verbindet und trennt zugleich.
Eine ähnliche Ambivalenz hat John Durham Peters im Blick, wenn er das Telefon als „erotisches Problem“ betrachtet, als ein Gerät, das ein Wechselspiel von Anziehung und Zurückweisung, nie aber das völlige Verschmelzen von Körpern ermöglicht. Telefonierende begehren einen abwesenden anderen, so Peters. Insofern wäre jedes Ferngespräch ein Echo des ersten Telefonates überhaupt: Als Alexander Graham Bell (wunderbarer Name für einen Erfinder des Telefons) seinen Assistenten in der Leitung hatte, soll er gesagt haben: „Herr Watson – kommen Sie – ich möchte Sie sehen!“
Peters präpariert die Besonderheiten des Medium heraus, und Münker erklärt die Erfindung des Telefons zum Geburtsdatum der virtuellen Realität. Solche Beiträge markieren das Verdienst dieses Buches: Sie weisen dem Apparat seinen Ort innerhalb eines Kontinuums verschiedener künstlicher Welten; sie historisieren jene umlaufenden Mythen, die unermüdlich versprechen, die virtuelle Zukunft beginne genau jetzt, mit traumhaften Einkaufsmöglichkeiten, herrschaftsfreier Kommunikation oder, bei Alpträumen, mit einem Netz voller Kinderschänder und Neonazis.
Leider hält das „Telefonbuch“ diese erhellende Nüchternheit nicht durch. Die motivgeschichtlichen Beiträge, die nach dem Telefon in Literatur, bildender Kunst und Film forschen, neigen mitunter dazu, das Telefon zum überzeitlichen Sinnbild zu entrücken. Nirgends wird das deutlicher als bei Alexander Roesler. Er behauptet, eigentlich sei schon Sokrates ein „Vertreter der Telefonie“ gewesen, die technische „Implementierung“ seiner Auffassung von Philosophie sei das „Handy mit Konferenzschaltung“. Wer will, kann lachen; begründet wird die These ganz ernst mit Sokrates' Plädoyer für die Mündlichkeit und seiner Vorliebe für die Stadt. Beide Argumente wird man aber, genauso ernst, nicht für hinreichend halten, um das Medium mit seinen spezifischen Bedingungen einzuholen.
Trotz dieser etwas geschichtsvergessenen Telefonfixiertheit werfen diese Artikel immer wieder interessante Einsichten ab – zum Beispiel den monologischen Duktus Heideggers als analog zum Rundfunk vorzustellen. Dagegen mündet der Eröffnungsbeitrag von Horst A. Wessel leider in eine Apotheose des Telefons: der Apparat als „Schlüssel“ zur unbegrenzten Mobilität, Nachrichtentransport ohne „Stau“, alle Wünsche nur einen „Mausklick“ entfernt. Blendend, diese Verheißungsmetaphern, verblendend hätte man sie früher vermutlich genannt. Sie wirken jedenfalls fehl am Platz in einem Band, der sich doch um klärende Erinnerung bemüht. Denn die Rede von der Freiheit durch Flexibilität kennen wir auswendig – aus der Werbung und von den Politikern, aus dem einen, endlosen Mediamarkt-Diskurs.
RENÉ AGUIGAH
Stefan Münker/Alexander Roesler (Hrsg.): „Telefonbuch – Beiträge zu einer Kulturgeschichte des Telefons“. Suhrkamp Verlag, Frankfurt a. M. 2000, 201 Seiten, 19,90 DM
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen