: Sicherheit gegen Ökostrom
Estland verkauft seine Kraftwerke an eine US-amerikanische Firma, in der Hoffnung, damit militärische Sicherheit zu erlangen. Der Schlackendreck türmt sich derweil auf
TALLINN taz ■ Es gibt viele Möglichkeiten, Elektrizität besonders umweltschädlich herzustellen. Eine Technik heißt: Verbrennung von Ölschiefer. Der Energiegehalt des Ölschiefers ist nämlich extrem niedrig, nach dessen Verbrennung bleiben 70 Prozent davon als Schlacke und Asche zurück. Gewaltige Mengen an Schwefeldioxid werden frei.
In der Nähe von Narva, unmittelbar an der estländisch-russischen Grenze, stehen die letzten beiden Ölschiefer-Kraftwerksdinosaurier Europas. Das Kraftwerk „Baltiska“ und das „Estonia“ sichern 95 Prozent der estländischen Stromversorgung. 9.000 Menschen finden in den Schiefergruben Arbeit. Kraftwerke und Schiefergruben sind zusammen der größte Arbeitgeber Estlands.
Da verwundert es nicht, wenn die Privatisierung eines solchen Ecksteins der Wirtschaft des Landes, wie es die noch staatliche „Eesti Energia“ darstellt, hohe Wellen schlägt. Umso mehr, als in einer ersten Runde gleich 49 Prozent ins Ausland gehen: an die US-Firma NRG („Energy“). Für den Spottpreis von 70 Millionen Dollar erhält der US-Multi nicht nur ein Monopol auf dem estländischen Strommarkt. Laut Vertrag verpflichtet sich die öffentliche Hand, auch von NRG in den nächsten 15 Jahren den Strom zu einem festgesetzten Preis abzunehmen.
Kommunen und Wirtschaft sind gegen einen solchen Knebelvertrag, ebenso wie Gewerkschafter und Industrieverbände. Protestunterschriften wurden gesammelt, wiederholt gab es Anti-NRG-Demonstrationen. Nach der letzten Meinungsumfrage sind gerade 8 Prozent für den NRG-Deal, 67 Prozent der EstländerInnen dagegen.
Nicht in erster Linie der estländische Markt scheint für NRG interessant, sondern die Exportmöglichkeiten der Überschussenergie: Das rund um die Ostsee verlaufende Kabelsystem „Baltischer Ring“ verspricht in einigen Jahren einträgliche Elektrizitätsverkäufe von Skandinavien bis Deutschland. Die Regierung gibt zu, dass der Grund für die Auswahl des US-Unternehmens mehr mit Politik als Ökonomie zu tun hat. Man wolle etwas für die nationale Sicherheit des Landes tun, erklärte Ministerpräsident Mart Laar: „NRGs Anwesenheit hier garantiert uns, dass die einzige Supermacht bei uns ureigenste Interessen zu verteidigen haben wird.“ Wenn schon nicht Nato-Mitgliedschaft, dann soll offenbar US-Kapital ein Sicherheitsfaktor für Estland sein.
UmweltschützerInnen befürchten, dass der NRG-Deal dazu führt, dass „Baltiska“ und „Estonia“ weiterhin ungestört stinken dürfen. Die beiden Ölschiefergiganten stehen für jährlich 100.000 Tonnen Schwefeldioxidausstoß – mehr, als beispielsweise ganz Schweden freisetzt. Weit über 100 Millionen Dollar würde eine einigermaßen wirksame Reinigungstechnik verschlingen, hat die Nordische Investionsbank schon vor Jahren errechnet.
Dabei gab es durchaus Alternativen für Estlands Regierung. Das Nachbarland Lettland hatte vorgeschlagen, „Eesti Energia“ mit dem lettländischen staatlichen Stromunternehmen – hier hat gerade eine Unterschriftensammlung für einen Volksentscheid einen Privatisierungsverkauf an NRG erst einmal gestoppt – „Latvenergo“ zusammenzulegen. Und auch verschiedene europäische Elektrizitätsunternehmen hatten sich für „Eesti Energia“ interessiert und umweltfreundlichere – aber arbeitsplatzbedrohende – Alternativen zum Ölschiefer vorgeschlagen. Doch konnte im speziellen Kalkül der estländischen Regierung weder schwedische noch finnische oder deutsche Militärpotenz bei den mit NRG vermeintlich gewonnenen Sicherheitsgarantien mithalten.
Das zweifelhafte Wahrzeichen Narvas, die mehr als einhundert Meter hohen Schlackenberge, auf die in dicken Rohren rund um die Uhr die stinkende Schlackenbrühe hochgedrückt wird, werden wohl noch lange weiterwachsen.
REINHARD WOLFF
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