: Das beste Silvester aller Zeiten
Die Raketen pfiffen davon. Den Himmel, den sie anpeilten, würden sie niemals erreichen Eine wahre Jahreswechselgeschichte vom Eiland der dreizehnminütigen Geborgenheit
Ich zog die Lederjacke an, die graue Wollmütze auf, schnürte die Red Wings, stopfte den Schwarzen Krauser in die Tasche, leerte das Licher und verließ die Wohnung.
Ich lief die Frankenallee hinunter, bog rechts ab, nahm die Hufnagelstraße dort, wo man Gunter Sare erschossen hatte, und wetzte zur Post. Der Automat gehorchte seit Tagen zum ersten Mal.
Ich eilte zurück. Die „Zeitungsente“ an der Ecke Frankenallee/Hufnagelstraße war erleuchtet.
Ich wich dem Acht-Uhr-Bus aus und stapfte zur Tür. Rascha, Besitzer, gute Seele und Wirt meiner Stammkneipe, kam auf mich zu. „Nix los heute“, sagte er. Sein Hund wedelte mit dem Schwanz. „Eben haben Leute angerufen. Zu spät. Ich mach zu. Ich hole meine Frau ab und feiere privat.“
Das Silvesterfest begann um neun. Ich hatte mich gefreut auf ein Bier vorher. Ich mochte sie im alten Jahr noch einmal sehen und ihnen Gesundheit und Glück wünschen: meinen Freunden Berry, Uli, Boris, Rascha; der rhetorischen Dampfmaschine Ali; sogar der Gedanke an den genialischen Bauunternehmer Wolfgang stimmte behaglich, wie nur die Erwartung der Einkehr in eine Lokalität stimmen kann, die kleine, behutsame Familiarität gewährt. Rascha wirkte ratlos. Rascha musste los. Der Hund kläffte.
„Rascha“, sagte ich, „ich wollte bloß ein Rutschbier trinken, warum ist denn niemand da?“ Er wusste es nicht. Traurig schaute er, zog die Schultern hoch, ließ sie wieder fallen und erwiderte: „Ich hoffe, dass du ein gutes Jahr haben wirst. Ich wünsche dir das Beste. Komm, trinkst du ein Bier! Ich gebe dir ein Bier, und dann gehst du hinten raus.“
Rascha öffnete die Tür. Wir betraten die leere „Zeitungsente“. Der Kellner war dabei, Feierabend zu machen. Rascha flankte hinter den Tresen, entkorkte ein Weizenbier und schenkte sie ein. Er schob sie zu mir herüber. Der Kellner schloss die Kasse und löschte die Küchenlampe. „Geh nach Hause, Jürgen bleibt hier“, sagte Rascha und entschwand. Der Kellner drehte von außen den Schlüssel rum. Der Geheimausgang blieb offen.
Ich rückte den Hocker zurecht und nahm einen Schluck. Der Schaum knisterte. Im funzeligen Licht glühte das helle Weißbier. Ich entbrannte eine Zigarette und schickte das Jahr 2000 zum Teufel. Ich dachte nichts. Das war wunderbar, die Ruhe samten und klar. Draußen beschossen sie das Haus Gallus, in dem Fritz Bauer einst den Auschwitz-Prozess leitete. Irgendein Unfug von wegen „Die neue Ereignislosigkeit“ fiel mir ein. Ich wischte ihn weg und trank.
Auf den Stühlen saß niemand. Neben mir redete keiner. Ich hob das Glas, betrachtete den Bierfilz und fühlte mich wohl. Dann dachte ich an meine Freundin. Ich dachte an meine Eltern, an meine Geschwister, und ich dachte an meine Freunde. Gedämpft böllerten sie. Nichts Spezielles, einfach so dachte ich an sie. Die Ruhe wurde größer. Die Ruhe wuchs und erfüllte mich mit Zuversicht. Ich spürte eine in diesem Raum, in der „Zeitungsente“, beheimatete oder begründete Geborgenheit. Ich merkte, dass nicht alles verkehrt ist. Vertrauen, komisches Wort. Doch es stimmte. Gar nicht seltsam. Schön, den Weizenbierkelch zum Mund zu führen, zu nippen, ihn abzusetzen und das stillgelegte Kneipenzimmer anzugucken.
Raketen pfiffen. Den Himmel, den sie anpeilten, würden sie nie erreichen.
Das war es. Das waren sie. Die richtigsten dreizehn Silvesterminuten. Danke, Rascha. JÜRGEN ROTH
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