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Die Einsamkeit der Experten

Im Martin-Gropius-Bau zeigt die Humboldt-Universität Schätze aus ihrem Besitz. Doch viele Sammlungen bleiben außen vor – von alten Hufbeschlägen bis zu den Geburtszangen der Charité

„Lebendige Patina“: Der Mathematiker streichelt das Modell einer Zeta-Funktion

von PHILIPP GESSLER

„Da haut was nicht hin.“ Zweifelnd, leicht verärgert wandert Siegfried Schendels Blick über den rechten Schaukasten. Ganz oben sind Hufeisen aneinander gereiht: Einer scheint wie der andere, sie sind schwarz, konkav, schlicht. „Sportbeschläge“ steht darüber, aber Schendel ist sich sicher, dass das nicht stimmen kann. Der schwarzhaarige, sehnige Mann mit dem Kinnbart schüttelt sanft den Kopf. Gleich wirft er sich auf sein Ross, denkt man sich, und reitet mit Arthos, Portos und Aramis los, um sich mit dem Falschbeschrifter zu duellieren. Aber Schendel ist kein Musketier des Sonnenkönigs, sondern Hufschmied, und diese Exponate der Hufeisen-Sammlung der Humboldt-Universität zu Berlin sind eben keineswegs „Sportbeschläge“, sondern orthopädische Beschläge mit „verdickten Schenkeln“, klärt der Fachmann auf – alles klar?

Es gehört zum Schicksal der Experten, dass sie kaum jemand verstehen kann. Ohne ihre Erläuterungen erscheinen die Schätze, die sie erschließen könnten, jedoch öde. In der Hauptstadt läuft noch bis Anfang März im Martin-Gropius-Bau am früheren Todesstreifen die wunderbare Ausstellung „Theatrum naturae et artis – Theater der Natur und Kunst“, die von solchen Fachleuten zusammengestellt wurde. Sie haben versucht, die schönsten Stücke der wissenschaftlichen Sammlungen in den Fakultäten der Humboldt-Universität in einer großen Schau vorzuführen.

Aus insgesamt über 30 Millionen Objekten der Forscherbegierde wählten sie etwa 1.100 Exponate aus – von dem römischen Marmortorso des Winkelmann-Instituts aus dem 1. Jahrhundert über das Skelett eines Ochsenfrosches aus dem Institut für Anatomie bis zum Modell eines Bandwurmgliedes aus Wachs, Glas, Metall und Holz aus dem Institut für Biologie. Eine große Wunderkammer von Natur und Kunst, von Geistes- und Naturwissenschaften soll entstehen, eine Zauberwelt, die das Staunen lehrt, den ersten Schritt zur Erkenntnis. Doch nicht alle Sammlungen der Humboldt-Universität wurden in der Ausstellung berücksichtigt. Weil sie nichts Staunenswertes zu präsentieren hätten? Weil kein Laie ihren Zauber nachvollziehen könnte?

„Gips kriegt mit der Zeit eine lebendige Patina“, sagt Jochen Brüning und streicht mit einer Hand über eine Plastik, die in etwa so aussieht, als habe da jemand eine Honigmelone geteilt und die beiden Hälften aneinander liegend aus Gips geformt. Professor Brüning zeigt aus der Sammlung dreidimensionaler Objekte zu geometrischen Formeln vom Institut für Mathematik der Humboldt-Universität das Modell einer Zeta-Funktion – oder so. Der Leiter des Lehrstuhls für Geometrische Analysis und Spektraltheorie ist es gewohnt, dass die meisten Leute nur Bahnhof verstehen, wenn er erklärt, womit er sich beschäftigt. Vor ihm auf dem Schreibtisch steht noch eine weitere Figur aus Gips, ein Parabolid, der aussieht wie der zerlaufene Kegel einer Feuerzangenbowle, und ein filigranes Blech- und Rohrgestell, das an die Doppel-Helix einer DNA erinnert, dies aber nicht ist, sondern ein Helikoid.

Dass diese Objekte nicht Teil der Ausstellung wurden, war Brünings Entscheidung selbst, denn mit Horst Bredekamp vom kunstgeschichtlichen Seminar hat er sie zusammengestellt. Ziel sei ja, „durch die Ästhetik der Objekte zur Wissenschaft zu verführen“ – die geometrischen Modelle hätten da nicht so gut reingepasst, weil sie ohne große Hilfskonstruktionen kaum verständlich gewesen wären: Bei der Mathematik müsse man eben den weitesten Weg zurücklegen, um zu verstehen, was da gezeigt werde, meint Brüning. Und lächelt mit der Milde eines Einstein, den auch nur eine Handvoll Menschen auf der Welt verstand, als er seine Relativitätstheorie vorstellte. Das ist die Einsamkeit der Experten.

Die große Zeit der geometrischen Modelle, erklärt Brüning, reichten vom letzten Viertel des 19. Jahrhunderts bis zum Ersten Weltkrieg. Damals genügte das Erstellen solcher Modelle schon einmal als Diplomarbeit. In zwei langen Fluren waren die Objekte bis zum Krieg ausgestellt. Dann wurden sie durch Bomben zerstört oder einfach nach und nach geklaut. Weil sie so „prachtvoll“ waren, meint der Mathematiker. Vor ein paar Jahren hat man in einem Dachboden im Hauptgebäude der Humboldt-Universität etwa 100 Modelle wieder entdeckt, viele durch Wasserschäden halb zerstört. Die meisten Objekte stammten aus DDR-Zeiten, als es sogar einen Modellbauer mit fester Planstelle gab.

Heute könnte der Einsatz der Modelle in der Lehre durchaus noch didaktisch sinnvoll sein, meint Brüning, denn „Ästhetik motiviert“. Zwar ließen sich die Formen auch auf dem Computerbildschirm darstellen – aber es fehle dabei eben die dritte Dimension. Außerdem: Bis zu 72 Stunden könne es dauern, bis selbst neue Rechner die entsprechenden Programme ausgeführt hätten.

Auch um die „hohe Abstraktion der Computerwelt zu kompensieren“, wachse deshalb seit etwa zehn Jahren wieder das Interesse an den geometrischen Modellen früherer Jahrzehnte, erklärt Brüning. Es gehe eben ums „Be-greifen“. Doch viele erfolgsorientierte Studenten, meint er noch mit leichter Resignation, würden Vorlesungen zu mathematischen Modellen nicht mehr besuchen, da sie glauben: „Das bringt doch nichts.“

Auf viel Unverständnis stößt auch Professor Horst Halle, wenn er die Sammlung geburtshilflicher Instrumente der Charité zeigt, die so genannte „Zangensammlung“ der Humboldt-Uni. Der Leiter der Geburtshilfe kann es schon verstehen, dass keines der Objekte den Weg in die „Theatrum“-Ausstellung gefunden hat. Denn schließlich seien sie dem Laien wohl nicht so leicht verständlich. Sie wirkten als „Folterinstrumente“ – und manche „sehen tatsächlich so aus“, wie der Mann mit dem muskulösen Unterarmen meint.

In mehreren Vitrinen sind die Instrumente ausgestellt, die zu einer Zangengeburt in den vergangenen Jahrhunderten gebraucht wurden: eine Zange des Amsterdamer Arztes Roger Roonhuysen aus dem Jahr 1747 etwa – nicht mehr als zwei gebogene Metallstangen, die zum Schutz des Kindes mit Leder bezogen sind. Nicht weit weg sind Zangen, die Haken hatten, um den Griff am Körper des Säuglings zu verbessern.

Manche „Universalzangen“ aus den Zwanzigerjahren des 20. Jahrhunderts hatten einen zusätzlichen Griff, um genug Kraft zum Herausholen des Kindes aus dem Uterus anwenden zu können. Und dann gibt es noch „Instrumente zur Anwendung beim toten Kind“ zu sehen – Haken, mit denen der tote Körper aus der Gebärmutter gezogen wird. Wenn eine Geburt drei Tage dauert, drohe die Mutter zu sterben, sagt Halle. Um sie zu retten, müsse das Kind geopfert werden.

Aber davon redet der Professor nicht so gern, denn er hält viel von der Zangengeburt: Mit genug Erfahrung und vorsichtig eingesetzt, sei sie durchaus eine elegante geburtshilfliche Methode – etwa, wenn die Mutter herzkrank sei und zu große Anstrengung beim Pressen nicht verkrafte, ein Kaiserschnitt aber nicht in Frage komme. An der Charité werde deshalb noch bei gut drei Prozent der Geburten „eine Zange gemacht“.

Es ist das Schicksal der Fachleute, dass ihre Objekte auf den ersten Blick öde erscheinen

Die Angst der Bevölkerung vor einer Zangengeburt beruhe darauf, dass sie oft erst als Ultima Ratio angewandt wurde, erklärt Halle: Die Schäden, die bei mit Zangen geborenen Kindern vor allem früher beobachtet wurden, lägen aber daran, dass sie eben zu spät geholt worden seien – der Sauerstoffmangel sei dabei meist der Grund für die Schäden, nicht die Zange, die das Kind holte. Immer weniger junge Ärzte hätten heute genug Erfahrung, diese Methode richtig anzuwenden. Und so könnte die beste Geburtshilfe gefährlich werden.

Das Gefühl, dass nachfolgende Generationen es nicht mehr so drauf haben, scheint auch Hufschmied Schendel zu beschleichen, als er die Hufeisensammlung der Humboldt-Universität vorzeigt. Heute sei er seinem späteren Schwiegervater, dem „Altmeister“, dankbar dafür, dass er ihn als Lehrling so getriezt habe. Dreimal habe er damals 17 Mustereisen schmieden müssen, wenn auch nur ein einziges von ihnen nicht akkurat war. Dafür könne er heute mitten in der Nacht aus dem Schlaf gerissen werden und exakt arbeiten: „Es geht nicht anders.“

Seit 1978 war Schendel hier Schmied – manche Hufeisen, die in den Vitrinen liegen, kennt er noch von früher. Er erläutert die Vorteile von Beschlägen mit eingefassten Tauen, zeigt Hufeisen aus Kuba, Panama, Südafrika, Australien, Irland und Bulgarien („zu flach gelocht“) und erklärt, warum die Römer ihren Pferden nur Sandalen an die Hufe banden und Beschläge aus Bast nichts taugen: „Wie lange soll’n das halten?!“

Verloren wirkt Schendel in der stillgelegten Schmiede, in der er 25 Jahre gearbeitet hat, und zeigt auf im Eichenholzparkett der „Beschlagbrücke“ auf die vom Scharren der Pferde hinterlassenen Dellen. Heute beschlägt Schendel Rösser in der Lehrschmiede der Freien Universität im Westen der Stadt, und der Gang durch seine alte Fakultät hier im Osten ist wie ein Trip durch die Vergangenheit.

Heute ist das Gebäude das Institut für Nutztierwissenschaften. In der alten Beschlagbrücke könnten jetzt Feiern stattfinden, erzählt ein früherer Kollege, bei dem er vorbeischaut. Vieles sei ja hier abgebaut worden, die Schmiede nicht mehr funktionsfähig. Aber die Sammlung, die habe man zusammengehalten. Sie gehöre noch der Humboldt-Universität – „und so behandeln wir sie auch“. „Richtig so“, sagt Schendel. Denn nur er kennt ihren Wert.

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