: Steilvorlage für neues Schichtsystem
EU-Urteil zu Bereitschaftsdiensten muss nun mit Leben erfüllt werden ■ Von Kai von Appen
„Das ist eine tolle Steilvorlage“, beschreibt Max Gussone, Freizeit-Fußballer und Chef-Jurist von der Gewerkschaft ÖTV in Hamburg, ein Urteil des Europäischen Gerichtshofs (EuGH). Der hatte im Oktober des vergangenen Jahres entschieden, dass Bereitschaftsdienst am Arbeitsplatz voll als Arbeitszeit zu werten ist. Doch damit aus dem Richterspruch der Luxemburger in der Praxis ein Punktsieg wird, bedarf es wohl noch einiger Dribblings der ÖTV-Stürmer in der Tarifarena. Gussone: „Es muss für den Öffentlichen Dienst ein ganz neues Arbeitszeitsystem geschaffen werden.“
Die Richter waren der Klage spanischer Ärzte gefolgt, die Bereitschaftsdienste als normale Arbeitszeit abgerechnet sehen wollten. So werden auch in Hamburg vor allem Beschäftigte in Krankenhäusern, Altenpflegeheimen oder der Jugendbetreuung vom EuGH-Urteil profitieren. Für die ÖTV tut sich dabei aber ein schwer zu bewältigendes Problemfeld auf. „Wenn Bereitschaftsdienste als Arbeitszeit bewertet werden, müssen wir ganz neue Schichtpläne machen“, sagt Gussone.
Bislang waren solche Dienste nur zu einem Teil als Arbeitszeit gerechnet worden. Nach der neuen Regelung gilt nun die pure Anwesenheit als volle Arbeitszeit – auch wenn die Nacht vornehmlich vorm Fernseher verbracht oder sogar geschlafen wird. Gussone: „Wenn die Betreuer in einer Jugendwohnung ihre chaotischen Kids im Griff haben, können sie natürlich pennen gehen.“
Bislang haben sich, so die übliche Verfahrensweise, die BetreuerInnen einer solchen Einrichtung die Nachtbereitschaftsdienste untereinander aufgeteilt. Als Folge der Gerichtsentscheidung könnten jetzt für Mitarbeiter bereits am Donnerstag aufgrund der Neubewertung die 38,5 Wochenarbeitsstunden abgearbeitet sein.
Die Bereitschaftsdienste in Zukunft allein durch bessere Bezahlung abzugelten, ist nach Auffassung von Gussone gewerkschaftlich nicht das Gelbe vom Ei. Dabei würden die Angestellten rechtlich „mit den Grenzen des Arbeitszeitgesetz kollidieren“. Mehr Personal wäre zwar schön, kostet aber Geld. „Da gibt es unter den Kolleginnen und Kollegen noch unterschiedliche Interessenslagen“, berichtet Gussone aus ersten internen Diskussionen mit betroffenen Personalräten. Außerdem haben gerade die Sozialeinrichtungen meist kein Geld für mehr Personal. „Wenn ein kleines Krankenhaus plötzlich zehn Schwestern, fünf Ärzte, eine Hebamme und eine Laborantin mehr einstellen muss“, so Gussone, „sind die Grenzen des Finanzier-baren schnell erreicht.“
Die ÖTV richtet sich auf sehr komplizierte Verhandlungen über die Änderung des Manteltarifvertrages (BAT) ein, die zuerst auf Bundesebene geführt werden müssen und dann bei Haustarifen oder Schichtplänen umgesetzt werden. Zudem kann das Ganze schnell zum Politikum werden. Das zeigen erste Stellungnahmen der öffentlichen Arbeitgeber, wenn es um die Finanzierung durch die Krankenkassen geht. Gussones Ahnung: „Dann geht es schnell in die große Politik.“
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