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die stimme der kritikBetr.: Achtundsechziger, Außenminister und gelogene Märchen

Joschka, der Wolf

In ihrem Roman „Frühstück mit Max“ berichtet die Schriftstellerin Ulrike Kolb von einem seltsamen Verhalten der Achtundsechziger: Sie erzählten ihren Kindern gelogene Märchen. So schreibt Frau Kolb über einen Vater aus dem Kinderladen, in dessen Version sich der Wolf von der Großmutter überzeugen ließ, „dass es böse wäre, wenn er sie frisst, weil sie doch so arm und alt sei. Also ließ er von ihr ab, rannte zu dem reichen Forstbesitzer und fraß den.“ Eat the rich!

Der Roman spielt ungefähr zu der Zeit, als sich Joschka Fischer mit den Polizisten prügelte. Um die Achtundsechziger nicht ganz so lieb und, altes Wort, peacig dastehen zu lassen, kann man sich ja überlegen, was für Versionen unser Außenminister damals so zum Besten gegeben hätte. Der hatte doch ganz andere Fassungen auf Lager!

Dass er selbst der Wolf sein wollte, ist eh klar. Aber sich von der Großmutter überreden zu lassen brauchte er bestimmt nicht; einen Förster fraß er doch im Vorübergehen und aus Prinzip. Bleibt die Frage, was machte Joschka, der Wolf, mit Rotkäppchen? Ob er schon die Weitsicht besaß, sie als emanzipiertes Wesen zu zeichnen? Hm. Man kann sich auch vorstellen, dass er die Großmutter aus dem Haus schickte, um bei Räucherstäbchen und Zappamusik ein bisschen mit Rotkäppchen anzubandeln.

Oder aber Joschka, der Wolf, sah kurzerhand die Großmutter als böse an. Trau keinem über . . . Sie wissen schon, und über sechzig eben schon gar keinem. Waren doch alle diskreditiert, die älteren Generationen! Der Wolf frisst in dieser Fassung also wie bei den Brüdern Grimm die Großmutter, wird dafür aber von Rotkäppchen, die den faschistisch-imperialistischen Hintergrund des deutschen Kleinbürgertums durchschaut hat, belohnt. Gemeinsam gehen Wolf und Rotkäppchen in den Untergrund, um gegen alle Förster in der ganzen Welt zu kämpfen: eher eine Prä-RAF-Variante, die sich Fischer später wieder anders überlegt hätte.

Heute sind zwei weitere Fassungen denkbar. Erstens: Joschka, der Wolf, wird selbst zum Förster. Das hätte aktuell Plausibilität, war damals aber, na klar, undenkbar. Zweitens: Rotkäppchen ist böse. (Wie Bettina Röhl wohl ein „Käppchen von rotem Sammet“ stünde? Bestimmt gut, oder?) Dann würden Joschka, der Wolf, und der Förster gemeinsam Rotkäppchen ein Schnippchen schlagen, und die Großmutter würde ihnen hohe Sympathiewerte entgegenbringen. Aber ob das dann noch ein Märchen ist? DIRK KNIPPHALS

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