: Das Amt der Ämter
Der amtliche Mittelpunkt der EU – ist ein Papierberg in Luxemburg. Im kleinen Großherzogtum fabriziert das „Amt für amtliche Veröffentlichungen“ täglich sechs Tonnen Post für Europa
von MARTIN EBNER
Schräg gegenüber dem Luxemburger Hauptbahnhof steht ein braun-graues Bürohaus. Die Fassade ist etwas schäbig, dafür mit den EU-Flaggen geschmückt. „Amt für amtliche Veröffentlichungen der Europäischen Gemeinschaften“ ist am Eingang zu lesen. Vor ein paar Jahren kam das Amt zu der Auffassung, dass dieser Name etwas zu bürokratisch sei, und taufte sich in „EUR-OP“ um. Dummerweise klingt EUR-OP in allen Sprachen gleich nichts sagend. Daher haben sich die 525 Angestellten angewöhnt, die Erklärung dazuzuliefern: „Wir sind das Verlagshaus der Europäischen Union“.
Offiziell heißt EUR-OP natürlich weiterhin „Amt für amtliche Veröffentlichungen“. Es ist zuständig für die Publikationen aller europäischen Institutionen. Vermutlich hatten die Politiker einen Anfall von Vernunft, als sie 1969 beschlossen, die einzelnen Publikationsabteilungen der diversen Institutionen zusammenzulegen. Abgesehen von dem 1999 eingerichteten Büro für Betrugsbekämpfung ist das Publikationsamt bisher die einzige „interinstitutionelle“ Einrichtung der EU geblieben.
EUR-OP strampelt sich nun ab zwischen den Eurokraten einerseits, andererseits den fünfzehn nationalen Regierungen und den 370 Millionen EU-Bürgern, die die ganze Veranstaltung bezahlen und misstrauisch beobachten. Seit dem Schock des dänischen Maastrichtreferendums und erst recht seit dem jämmerlichen Rücktritt der letzten Kommission verspricht die EU „Transparenz“. Leichter gesagt als getan: Wie können Organisationen und Verfahren, die Technokraten über Jahrzehnte ausgetüftelt haben, allgemeinverständlich dargestellt werden? Und wie lassen sich Informationen so verteilen, dass nicht nur Lobbyisten etwas davon haben?
Die wichtigste Informationsquelle der EU und das Hauptprodukt von EUR-OP ist das EU-Amtsblatt. Zum ersten Mal erschien es am 30. Dezember 1952: je acht Seiten in Französisch, Deutsch, Italienisch und Holländisch. Heute sind es jeden Werktag viertausend Seiten – in allen elf Amtssprachen der EU. Die Statistik könnte Mathelehrer zu Aufgaben inspirieren, wie: „Ist das Ulmer Münster höher als die 520.000 Seiten der jährlich 940 Amtsblätter?“ Überprüft werden die Texte von sechzig Korrektoren. Und 1999 wurden durch kleinere Buchstaben sechzigtausend Seiten eingespart.
Es gibt drei Ausgaben des Amtsblatts. „L“ enthält Rechtsvorschriften. In der „C“-Ausgabe werden Mitteilungen veröffentlicht, zum Beispiel Berichte des Rechnungshofs und parlamentarische Anfragen. Seit Maastricht werden auch die einzelnen Schritte der Gesetzgebung bekannt gemacht. Wie immer ist damit niemand zufrieden: Den Skandinaviern ist alles noch nicht öffentlich genug, die französischen Beamten würden gerne im Trüberen fischen.
Im „S“-Anhang zum Amtsblatt sind die öffentlichen Ausschreibungen zu finden – pro Tag bis zu siebenhundert neue. Von den geschätzten tausend Milliarden Euro, die aus öffentlichen Kassen pro Jahr in Europa für öffentliche Aufträge ausgegeben werden, taucht immerhin rund die Hälfte im Amtsblatt auf. Firmen sehen hier, was ihre Kunden wünschen; die Bürger erfahren, wo ihre Steuergelder bleiben: etwa dass die Stadt Straßburg gerade einige Tausend Gummisandalen gekauft hat.
Bis 1998 war der S-Teil des Amtsblatts ein dicker Wälzer. Seither gibt es die Ausschreibungen nur noch auf CD-Rom. Diese Umstellung spart pro Jahr elf Millionen Euro ein. Auch so kostet die Produktion des Amtsblatts noch fast vierzig Millionen Euro; durch den Verkauf von rund zwanzigtausend Abos kommt allerdings auch Geld herein. Die L- und C-Ausgaben werden ebenfalls auf CD angeboten. Solange die Rechtsfragen des elektronischen Publizierens ungeklärt sind, müssen sie weiterhin auf Papier gedruckt werden. Zehn Druckereien in vier Ländern sind damit beschäftigt; EUR-OP selbst stellt nur zwei Prozent aller Publikationen selbst her – immerhin 4.600 Tonnen Papier pro Jahr. Verpackt werden die Amtsblätter dann in einer großen Halle im Luxemburger Industriegebiet – nachts, denn bis 14 Uhr müssen sie in den Hauptstädten sein. Sechstausend Kilo Pakete täglich machen EUR-OP zum größten Kunden der Luxemburger Post.
Außerdem speist EUR-OP die Rechtstexte in Datenbanken ein. TED bringt die Ausschreibungen ins Internet. Celex und Eudor sind für Spezialisten gedacht. In EUR-Lex sind die EU-Verträge und -Gesetze bis zu 45 Tage nach ihrem Erscheinen für alle gratis im Internet einsehbar. Da nicht jeder etwas mit der Information anfangen kann, dass zum Beispiel in einem Paragrafen ein „und“ durch ein „oder“ ersetzt wurde, wird eine „konsolidierte Fassung“ angeboten. Sie erspart es den Benutzern, sich den endgültigen Gesetzestext in diversen Amtsblättern selbst zusammensuchen zu müssen. Bis zum Frühjahr sollen alle Datenbanken in EUR-Lex integriert werden. Besonders wichtig sind die elektronischen Texte für die Eurokraten selbst – ohne Internet wäre der Wanderzirkus zwischen Straßburg und Brüssel vermutlich schon längst zusammengebrochen, ganz abgesehen davon, dass ohne Idea, das elektronische Personalverzeichnis, viele Beamte unauffindbar wären.
Neben den Amtsblättern betreut EUR-OP die Herstellung und weltweite Verteilung von 150 Periodika und jährlich über neuntausend anderen Veröffentlichungen – von Flugblättern bis zu Forschungsberichten, von Post- und Landkarten zu Wörterbüchern. Am meisten gefragt sind die EU-Verträge. Weitere Bestseller des Amts, das die EU-Adressdatenbank mit über anderthalb Millionen Einträgen verwaltet, sind das „Who’s who“ der EU und die „Gemeinschaftsregeln für Maschinen“. Besonders wichtig ist in jedem Januar der „Gesamtbericht über die Tätigkeit der EU“ – die Bibel für alle, die sich um eine EU-Stelle bewerben. Auch Videos sind im Angebot, zum Beispiel von der Veterinärinspektion „Schlachten von Schweinen“. Bekannt gemacht werden die Publikationen mit Katalogen (1999 wurden 462.000 verschickt) und in EUR-OP News, einer Gratiszeitschrift, die von Praktikanten aus verschiedenen Ländern zusammengestellt wird.
Weil viele EU-Institutionen vor dem Sprachensalat kapituliert haben, wird nicht alles übersetzt. So ist das Eurostat-Jahrbuch nur in den Arbeitssprachen der EU, also Englisch, Französisch und Deutsch, erhältlich – und außerdem in Dänisch, weil sich Dänemark für jede Schule ein Exemplar leistet. Griechenland gönnt sich tausend Kopien des Badewasserreports. EUR-OP selbst ist die Sprachenfrage egal. Da die 55 Millionen Euro des eigenen Budgets nur für Infrastruktur- und Personalkosten reichen, müssen die Publikationen jeweils von den Auftraggebern bezahlt werden – und wenn jemand Veröffentlichungen in Katalanisch oder Japanisch kauft, dann bekommt er es eben.
Zwei Exemplare jeder Publikation kommen in das EUR-OP-Archiv – bisher sind das vier Regalkilometer. Auf die vierzigtausend Titel, die in vierzig Kilometer Versandlager liegen, ist EUR-OP dagegen nicht besonders stolz. Schließlich sind die Papierberge ungefähr so sinnvoll wie früher die Butterberge. Immerhin schmelzen sie dank Internet zusehends, 1999 nahmen sie um acht Prozent ab; in Zukunft soll direkt „auf Bestellung“ gedruckt werden.
Eine der wichtigsten Verteilerstellen ist die Eingangshalle von EUR-OP. Da das Amtsblatt als veröffentlicht gilt, sobald es dort im Regal ausliegt, ist sie ständig geöffnet – 24 Stunden, jeden Tag. Ob sich jemand traut, nachts dort hinzugehen, um sich zum Beispiel in „Richtlinie 2000/18/EG“ zu vertiefen, ist allerdings eine andere Frage. Die Luxemburger Drogen- und Rotlichtszene ist nicht sehr groß, dafür aber halbwegs vollständig rund um das Amt versammelt. Von Zeit zu Zeit schreibt Lucien Emringer, der EUR-OP-Generaldirektor, an die Luxemburger Regierung, dass die Prostitution vor dem Eingang „immer früher am Tag“ beginne. Die Beschwerden werden mit größter Zerknirschung entgegengenommen – und weggelegt. Solange die Eurokraten doppelt so viel verdienen wie ihre „nationalen“ Kollegen, hält sich das Mitleid in Grenzen.
Die meisten Bürger sprechen sowieso nicht persönlich in Luxemburg vor. Besonders viele Briefe bekommt EUR-OP aus Frankreich, anderthalb Mal mehr als aus Deutschland. Niemand weiß, wieso die Dänen doppelt so viel Publikationen bestellen wie die Schweden und die Spanier gleich viermal mehr als die Italiener. Nicht ganz klar ist auch, wieso vor allem Kultur und Bildung gefragt werden, obwohl die EU da am wenigsten zu sagen hat. Zum normalen Ämterschicksal gehören dagegen die regelmäßig eintrudelnden Ankündigungen des Weltuntergangs und Perpetuum-mobile-Erfindungen. Sie werden höflich-ausweichend beantwortet und im Ordner „Unglaublich“ abgeheftet. Anfragen wie „Ich interessiere mich für die EU. Könnten Sie mir Ihre Publikationen zuschicken?“ bereiten den Beamten dagegen Freude. „Gerne!“, antworten sie dann – „Haben Sie schon ein Lagerhaus gemietet, wo wir die Sachen abladen können?“
MARTIN EBNER, 30, Historiker, lebt nach einer Hospitanz in Luxemburg in Stuttgart
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