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„Sexualerziehung, die ankommt“

■ Kinder im aufgeklärten Zeitalter wissen längst nicht alles. Vor herrschenden Rollenklischees sind sie nicht geschützt/ Prof. Petra Milhoffer über die Notwendigkeit von Sexualerziehung

Ist nicht alles gesagt über „Mädchen und Jungen auf dem Weg in die Pubertät“? Nein, findet die Bremer Hochschullehrerin Prof. Dr. Petra Milhoffer. In einer sexualpädagogischen Studie hat sie 550 Jungen und Mädchen gefragt, wie sie sich selbst sehen, was sie sich von der Schule wünschen und was sie über Sexualität und Liebe wissen wollen.

taz: Vor dreißig Jahren wurde eine „offene Sexualerziehung“ zum bildungspolitischen Ziel erklärt und in Richtlinien und Lehrplänen der Schulen verankert. Inzwischen wird Sexualität in den Medien bis zum Abwinken gezeigt und diskutiert. Ist schulische Sexualerziehung da nicht tendenziell überflüssig?

Prof. Petra Milhoffer: Man könnte davon ausgehen, dass die Kinder genug aufgeklärt sind durch alles, was sie da so aufschnappen. Das heißt nicht, dass sie alles verstehen und dass sie nicht Fragen zu ihrer körperlichen Entwicklung und ihren eigenen Gefühlen hätten. Es macht einen Unterschied, ob man guckt, was andere tun, oder wie es einem selbst geht mit seinen Gefühlen und seinem sich in der Pubertät verändernden Körper.

In den Vorabend-Serien werden jeden Tag Jugendliche in ihren Gefühlen und ihrer körperlichen Entwicklung dargestellt. Werden sie von den Kindern gesehen?

Die spielen eine große Rolle. Wichtig ist für eine Sozialisation im Sinne von Gleichberechtigung, ob da auch starke Mädchen und sensible Jungen gezeigt werden. Es spricht für sich, dass eine Serie wie „Aus heiterem Himmel“ abgesetzt wurde. Da hatten zwei Männer als Patchwork-Familie Erziehungsaufgaben übernommen und waren bereichsweise in „weibliche“ Rollen geschlüpft. Das schien nicht werbewirksam genug zu sein. Geschlechtsbezogene Rollenklischees sind nach wie vor wirksam, wenn wir die meisten Handlungsmuster in den Medien verfolgen. Die Mädchen warten eher darauf, dass die Jungen aktiv werden und die Jungen stehen unter dem Druck, „es sein zu müssen“. Auch die Normen für Schönheit und Attraktivität werden vorgegeben und es wird gezeigt, wie Paarbildung sich erfolgreich vollzieht. Da nimmt nicht wunder, dass nur knapp 20 Prozent der von uns befragten Kinder im Alter zwischen acht und zwölf Jahren „gar nichts“ an ihrer körperlichen Erscheinung auszusetzen hatten.

Werden die Beiträge in den Medien für die eigene Aufklärung genutzt?

Sicherlich. Unsere Umfrage richtete sich ja besonders an die Acht- bis Zwölfjährigen. Die Schule wird allerdings von beiden Geschlechtern am häufigsten als Aufklärungsquelle genannt. Aber die Medien spielen auch eine wichtige Rolle. Die Kinder holen sich heute die Aufklärung aus der Bravo, sobald sie lesen können. Die Informationen aus der Bravo sind also schon für die Neun- und Zehnjährigen interessant, die Älteren äußerten sich dazu eher mit einem müden Lächeln.

Mädchen oder auch Jungen?

Jungs lesen das auch, aber die finden das eher ein bisschen peinlich und stellen den Unterhaltungswert heraus. Sie mögen nicht zugeben, dass sie die Antworten auf die Fragen auch lesen, weil sie etwas nicht wissen.

Sexualkunde in der Schule muss also nicht so sehr Informationsvermittlung sein?

Doch. Auch. Der Erziehungsauftrag der Schule muss nach wie vor sehr ernst genommen werden. Dabei ist ein sicheres und präzises Wissen über den Körper sehr wichtig. Selbstbewusstsein hat etwas mit Sicherheit zu tun und Sicherheit entsteht auch durch Wissen um Körperfunktionen und –organe des eigenen und des anderen Geschlechts. Der Biologieunterricht über den menschlichen Körper müsste früher als in der 6. Klasse beginnen und wie selbstverständlich die Geschlechtsorgane einbeziehen. Um die Neugier der Kinder zufriedenzustellen, sollten schon in der Grundschule Bildbände über den menschlichen Körper und Aufklärungsliteratur verfügbar sein. Sexualunterricht sollte immer dann stattfinden, wenn die Kinder Fragen dazu haben oder durch ihr Verhalten zeigen, dass ein Klärungsbedarf besteht. Das können diskriminierende Sprüche aus der Sexualsphäre, Übergriffe auf dem Schulhof oder Kritzeleien in der Schultoilette sein. Sexualerziehung ist immer auch Sozialerziehung. Durch fächerübergreifende Handlungsmodelle und Rollenspiele können Kinder in der Schule lernen, wie man mit dem eigenen und mit dem anderen Geschlecht fair, respektvoll und liebevoll umgehen kann, das heißt in einer Weise, die sozial akzeptabel und im Umgang miteinander tragfähig ist.

Haben Rollen-Klischees für Kinder heute überhaupt noch eine Bedeutung? Wie werden sie herangetragen an die Kinder?

Wir haben die Kinder gefragt: „Wie möchtest du sein?“ Da wurden sowohl bei Mädchen wie bei Jungen den Attributen „klug, sportlich, stark, mutig und witzig“ fast gleich häufig der Vorzug gegeben. Und das wiederholte sich, wenn gefragt wurde: „Was glaubst du, wie du wirklich bist?“ Auch da sind die Gemeinsamkeiten in der Selbsteinschätzung häufiger als die Abweichungen. Wurden die Kinder jedoch dazu angeregt, darüber nachzudenken, wie sie sich gegenseitig finden, reproduzieren sie die gängigen Stereotypen: Da sagen Kinder, Mädchen wie Jungen: „Mädchen sind zickig“ und „Jungen schlagen immer gleich zu“. Die Kinder drängen sich damit gegenseitig in Schubladen, ohne dass das zu ihrem Bild von sich selbst passen würde.

Was sollen Grundschullehrerinnen machen?

Die Kinder fragen, was sie über Liebe und Sexualität wissen wollen und wie sie es wissen wollen. Dies geschieht am besten erstmal anonym und diskret. Und die Ergebnisse einer solchen schriftlichen Befragung bieten einen wunderbaren Gesprächsanlass und Hilfen für die weitere Unterrichtsgestaltung. Solche Diskretion ist vor allem in Klassen mit Kindern aus strenger religiösen Elternhäusern wichtig. Solch ein Fragebogen war ja auch die Grundlage der vorliegenden Studie. Wenn seine Gestaltung kindgerecht ist und die Kinder ernst nimmt, wird er von den Kindern auch angenommen. Wichtig ist jedoch, den Humor bei diesem Thema nicht zu vergessen. Von daher ist einem witzigen Cartoon als Aufklärungsliteratur der Vorzug gegenüber medizinischen Querschnittsdarstellungen zu geben.

Fragen: K.W.

Heute Abend berichtet Prof. Petra Milhoffer über „Mädchen und Jungen auf dem Weg in die Pubertät. Ergebnisse einer sexualpädagogischen Studie“ in der Reihe „Fragen und Ergebnisse der Frauen- und Geschlechterforschung“. Um 19.30 Uhr im Gästehaus der Universität auf dem Teerhof. Die Studie wurde finanziert von der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung in Köln. Dazu gibt es eine Arbeitsmappe mit dem Titel „Sexualerziehung, die ankommt“. Bezug über BzgA (51101 Köln, Bestellnummer 133 000 15) mit weiterführenden Informationen und didaktischen Vorschlägen.

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