Der manuelle Tor-Anzeiger

Karsten Linow ist der Herr des Spielstands beim 1. FC Union. Eine elektronische Anzeigentafel fehlt in Köpenick

Karsten Linow hat einen Traum. Darin springt der 35-Jährige an seinem Arbeitsplatz jubelnd in die Höhe, reißt das Fenster auf, um eine Zahlentafel in die dafür vorgesehene Halterung zu schieben. Wenige Meter unter seinem Arbeitsplatz bricht daraufhin frenetischer Jubel los, wildfremde Menschen umarmen sich im Freudentaumel. Linow ist kein Sektenführer und auch nicht die Glücksfee einer Lotterie. Er versieht beim 1. FC Union lediglich den Dienst eines manuellen Tor-Anzeigers.

Während im bundesdeutschen Fußball längst die elektronische Anzeigentafel Einzug gehalten hat, weigert sich der Klub aus Köpenick standhaft, dem vermeintlichen Fortschritt zu folgen. Im Stadion „An der Alten Försterei“ ist Handarbeit angesagt, wenn es darum geht, den aktuellen Spielstand zu signalisieren. „Das Häuschen ist bei uns Fans Kult“, erzählt Linow in seinem rund zehn Quadratmeter großen Kabuff. Von den Wänden bröckelt der Putz, durch die Fensterritzen pfeift der Wind. Seit der Sprecherturm auf der Gegenseite dem Tribünenneubau weichen musste, versieht auch noch der Stadionsprecher seinen Dienst in Linows ohnehin engem Reich. Gelegentlich kommt es zwischen beiden zu lautstarken Meinungsverschiedenheiten bezüglich der Pausenmusik.

Trotzdem fühlt sich Linow in der Rumpelkammer aus den 80er-Jahren wie im siebten Himmel. „Seit fünf Jahren mache ich den Job“, sagt der im bürgerlichen Leben erwerbslose Kraftfahrer scheinbar emotionslos. Doch der Mann, der seit 1973 in die „Alte Försterei“ pilgert, weil ihm damals die Mama einen Fanschal strickte, weiß nur zu gut, dass ihn viele Anhänger um den Stadionjob beneiden. Am eher kümmerlichen Stundenlohn von 10 Mark kann es nicht liegen. Aber Linow sitzt sozusagen an der Quelle der Geschichte. Handgreiflich verwaltet er historische Siege und tragische Niederlagen. „Das rechte Fenster streichele ich schon mal während des Spiels, das linke fliegt oft mit voller Wucht zu.“ Zur Erklärung: Die rechte Luke führt zum Ergebniskasten des 1. FC Union („Heim“), die linke muss Linow öffnen, wenn die „Gäste“ ein Tor erzielt haben.

Mitunter macht er Politik. Als seine Elf im vergangenen Herbst 1:0 gegen den verhassten Erzrivalen Tennis Borussia aus Charlottenburg führte, hielt Linow flugs eine „0“ neben die „1“ auf der „Heim“-Seite. Mit frenetischem Applaus übernahmen die Union-Fans den vermeintlichen Befehl von oben, zehn Tore zu erzielen, und forderten von ihrer Mannschaft mehr Laufbereitschaft und Torgefahr.

„Unsere Spieler schauen oft nach oben, um sich zu orientieren. Wenn ich beim Stand von 1:0 die Tafel mit der 2 raushalte, wissen die Jungs, dass die Fans mehr erwarten“, sagt Linow. Seit er für Ergebniskorrekturen zuständig ist, fehlte er erst zwei Mal. Beide Partien, behauptet Linow, seien 0:0 ausgegangen.

Linows schönste Amtshandlung? „Natürlich das 1:0 gegen Bochum“, lautet die prompte Antwort. Am 20. Dezember hatte der 1. FC Union den Bundesligisten im Pokal-Viertelfinale geschlagen. „Dieses Ergebis steht im Union-Buch meiner Kinder“, glaubt der kinderlose Junggeselle in seinem Kabuff. Am 6. Februar spielt Union gegen Mönchengladbach um den Einzug ins Pokal-Finale. Nichts würde er lieber tun, als wieder mehr Tore für den Heimverein zu zählen. „2:1 für uns, das wäre ein Traum. Höher müsste der Sieg gar nicht ausfallen, Hauptsache, die Differenz stimmt.“

Im Endspiel am 26. Mai wäre Linow allerdings arbeitslos. Denn die Partie findet im Olympiastadion statt, das längst über eine riesige elektronische Wandtafel verfügt. „Eines Tages“, befürchtet der Unioner, „kommt auch bei uns die elektronische Anzeigentafel.“ JÜRGEN SCHULZ