: Phantomdebatte Studiendauer
HOCHSCHULEN IN DER KRISE (7): Immerzu wird eine Verkürzung des Studiums gefordert. Vernünftig. Aber deswegen muss Amerika noch lange kein Vorbild sein
Es war eine beinahe unheimliche Begegnung. Die Podiumsdiskussion über Sinn und Unsinn der neuen Bachelor- und Masterstudiengänge kam fast zu ihrem Ende. Da meldete sich ein junger Mann und lehnte diese Kurzstudien in Bausch und Bogen ab. Es war weniger das kategorische Nein, es war die Erscheinung des Diskutanten, die so sehr irritierte. Der Mann hatte kaum mehr Zähne im Mund, und die, die ihm geblieben waren, machten wahrlich keinen gesunden Eindruck.
Ich kannte den Mann. Henning, nennen wir ihn mal so, ist Student – immer noch. Schon vor fünf Jahren war er an der Uni und in der Berliner Hochschulszene aktiv. Einer der fittesten Asta-Vertreter der Stadt. Stets gut informiert, immer für ein peppiges Zitat gut, einer, der es locker mit dem eloquenten Wissenschaftssenator aufnehmen konnte. Damals.
Heute ist Henning ein Faktotum der Studentenschaft. Seine Schlagfertigkeit ist zur Rechthaberei verkommen. Seine Argumente finden unter den Studierenden kaum mehr Widerhall. Dennoch könnte Henning als Symbol für die Studiosi der 80er- und 90er-Jahre gelten: Sie kennen kein Ende, sie werden im doppelten Sinne nicht fertig mit ihrem Studium. Halb, weil sie es nicht können; halb, weil die Uni sie nicht lässt.
Es ist in Mode gekommen, späte Examen als ein volkswirtschaftliches Risiko zu betrachten. Ob die ökonomischen Vor- oder Nachteile später Studienabschlüsse überwiegen, lässt sich schwer sagen. Über zwei Jahrzehnte hatten die Hochschulen jedenfalls die gern beschwiegene Aufgabe, als billiges Rückhaltebecken für überschüssige Akademiker zu fungieren. Eine radikale Studienzeitverkürzung in der Ära Kohl etwa hätte hunderttausende von Absolventen in kurzer Zeit produziert. Das hätte selbst den vergleichsweise guten Akademikerarbeitsmarkt vor unlösbare Probleme gestellt.
Lange Studiendauer und späte Abschlüsse werfen in Wahrheit ganz andere Probleme auf. Nicht wenige Studis erleben ihr Nachzüglertum ja alles andere als heldenhaft. Das extremste Beispiel für das Nachzüglertum der Universitäten ist vielleicht die studentische Politik: Sie ist schwerfällig, langatmig und arbeitet sich daran ab, gegen jeden Versuch eines beschleunigten Studiums anzukämpfen. Auch andere Akteure des hochschulpolitischen Diskurses orientieren sich negativ an der Zeitfrage. Die Professoren mokieren sich über die Beschleunigung akademischer Karrieren durch Juniorprofessuren. Die Konferenz der Kultusminister ist qua Struktur kein quickes Gremium.
Diese merkwürdige Einstimmigkeit führt zu einem verzerrten Bild von der Universität. Es gibt kaum mehr positive Definitionen davon, was ihre Idee sei. In der Öffentlichkeit hat sich längst ein amorphes Krisenszenario festgesetzt – die Unis seien überfüllt, teuer, reformunfähig und so weiter. Vor allem aber schiebt sich das für beinahe jedermann Sichtbare in den Vordergrund: die Zeitfrage. Die ganze Gesellschaft hastet – die Uni aber rastet.
Das Bildungssystem muss schneller werden, keine Frage. Aber mit mehr Geschwindigkeit ist es nicht getan, sonst wird man bald die gleiche Krise wie in den USA erleben: dass Bildung dem „Schneller, höher, weiter“ unterworfen wird – und trotzdem nichts mehr stimmt. Schulabsolventen seien weder mit den Basisqualifikationen für den Arbeitsmarkt noch mit der Urteilsfähigkeit für die Demokratie ausgerüstet, konstatierte ein US-Richter gerade in einem Aufsehen erregenden Urteil.
In der Reformdebatte hier stehen sich derzeit zwei Modelle von Universität gegenüber: einerseits das bezaubernde Universitätsmodell Wilhelm von Humboldts. Es steht der Idee nach für Kooperation und Persönlichkeitsbildung durch Wissenschaft. Andererseits die amerikanische Variante, die Wettbewerb und pragmatische Nutzenorientierung repräsentiert. Die US-Variante scheint die schnellere zu sein. Das hängt aber gar nicht an dem viel diskutierten Gegensatz von Kooperation und Konkurrenz, sondern an einer falschen Umsetzung des Humboldt’schen Konzepts.
Denn im Alltag der Bildungsexpansion hat sich Humboldts Konzept in eine augenzwinkernde Kumpanei zwischen Studierenden, Professoren und Kultusbürokratie verwandelt, in einen Kult der Beharrung: Die Studis mögen ruhig vor sich hin studieren, die Professoren dürfen die Studienordnungen weiter mit Spezialstoff überfüllen. Und die Kultusbürokratie unternimmt, wiewohl scheinbar protestierend, in Wahrheit nichts.
Dieser so gründlich und so absichtsvoll missverstandene Humboldt führt dazu, dass die meisten hochschulpolitischen Akteure sich den heimlich Verehrten inzwischen vom Hals wünschen. Humboldt ist tot!, heißt die Diagnose. Das ist für die Person zweifellos seit 165 Jahren richtig. Seine Idee aber, Professoren und Studenten im Gespräch zusammenzubringen zum Zwecke des besseren (und schnelleren) Erkenntnisfortschritts, müsste doch heute lebendiger denn je sein. Das eigene Fragestellungen entwerfende, urteilsbildende, zur Reduktion zwingende Gespräch gewinnt schließlich gerade dann an Aktualität, wenn die Informations- und Wissensmassen durch bloßes Memorieren ganz offenbar nicht mehr zu bewältigen sind.
Humboldts universitärer Diskurs ist alles andere als tot. Er lässt sich auch in einem nach Bachelor-Master-Abschlüssen strukturierten Studium unterbringen – richtig interpretiert. Sein „zwangloses Gespräch“ können Professor und Student auch beim verkürzten Studium noch führen, wenn es – anders als bisher praktiziert – gut vorbereitet ist und wenn es unter Teambedingungen stattfindet. Dann werde das „Verhältnis zwischen Lehrer und Schüler durchaus ein anderes als vorher“ sein, folgerte der preußische Staatsreformer Humboldt daraus. Im Jahre 1809 war das ein paternalistisches, ein Top-down-Emanzipationsedikt. Im 21. Jahrhundert aber ist daraus ein Bottom-up-Managementmodell geworden, dass sogar die Industrie allenthalben postuliert.
Das akademische Gespräch auf gleicher Augenhöhe als pädagogisches Prinzip und entwicklungspsychologisches Ideal hätte ja noch einen ganz anderen Vorteil: Es ist fähig, dem Wettbewerbswahn des amerikanischen Hochschulmodells die Spitze zu nehmen. Humboldts didaktische Abwendung vom Rohrstock hin zur Gesprächskultur wirkt entweder als Beschleuniger oder als Bremse. Denn die kognitive, emotive und soziale Aspekte berücksichtigende Kommunikation im Seminar respektiert unterschiedliche Lerngeschwindigkeiten und damit die Identität des Gegenübers. Das ist im amerikanischen Bildungsmodell des unbedingten Wettbewerbs offenbar anders.
Jenseits des Großen Teichs ist man mit dem Lerngeschwindigkeitsrausch inzwischen an seinem natürlichen Ende angelangt: im Kindergarten. Die New York Times musste kürzlich entsetzt feststellen, dass dort vor lauter Fächern und Büffelei keine Zeit mehr für das Mittagsnickerchen bleibt.
CHRISTIAN FÜLLER
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