: Der Gnatz der Wäldler
Die jüngere Geschichte des 800-Meter-Olympiasiegers Nils Schumann hat viele Schauplätze. Die Goldmedaille von Sydney krempelte das Leben des braven Leichtathleten aus Erfurt vollständig um
von MARKUS VÖLKER
SYDNEY. Nur ein Ort in dieser Geschichte. Nils Schumann (22) gewinnt bei Olympia Gold über 800 Meter. Deutschland ist hingerissen vom Leichtathleten aus Thüringen. Der Werbebranche läuft beim Anblick des jubelnden Läufers der Geifer über die Lefzen. Mit diesem Burschen ließe sich verdammt viel Kohle machen, ist die einhellige Meinung.
ERFURT. Einer kleinen Agentur in der Landeshauptstadt wird es nach der ersten Freude Angst und Bange. Die Rübe Marketing Gmbh hat Nils Schumann unter Vertrag. Auf deren Visitenkarten ist ein Rote-Rübe-Männchen zu sehen, das mit Fußball, Speer und Tennisracket hantiert, außerdem ist der Slogan aufgedruckt: „Wir machen uns für Sie eine Rübe.“ Die müssen sich die Marketing-Leute regelrecht zerbrechen, denn Schumann will nicht mehr für das Weimarer Fleischershandwerk auf Tartan gehen, sondern für eine „große Marke“, wie Peter Rühberg, Chef der Agentur, sagt. Man sondiert. Zwei Bierbrauereien wollen jeweils einen fünfstelligen Betrag überweisen, Hersteller von Computerchips und Gesundheitsnahrung sind interessiert. Rübe zögert und lässt von „Sport + Markt“ in Köln ein Vermarktungsprofil erstellen. Verblüffendes Ergebnis: Schumann soll die Finger von Hopfengetränken lassen und lieber Erfrischungsdrinks in die Kamera halten.
NIJMEGEN. Als Anfang November immer noch kein Vertrag geschlossen ist, telefoniert Schumann mit Jos Hermens. Sein holländischer Manager, der sich mit der Agentur „Global Sports Communications“ vor allem um den Wettkampfkalender der Leichtathletik-Szene kümmert, stärkt ihm den Rücken, denn längst kursiert die Meinung, Schumann sei für Rübe Marketing eine Nummer zu groß. Rühberg wiederum, überdies freier Journalist und noch keine 30 Jahre alt, versichert, nie an Überforderung gelitten zu haben. Er ist vielmehr überzeugt: Sein Team hätte viel Geld herausschlagen können.
MALLORCA. Der 15. November. Für Rühberg ein „ominöses Datum“. Am Strand werden Fotos für das Magazin Max geschossen. Schumann und seine Freundin, die Hochspringerin Amewu Mensah, räkeln sich im Sand. Mit dabei ist Mensahs Manager Klaus Kärcher. Rühberg gibt anfänglich Begleitschutz, doch dann muss er vorzeitig abreisen. Kärcher hat auf der Baleareninsel alle Zeit der Welt, Schumann zu gewinnen. Beide stellen fest: „Die Chemie stimmt.“ Kärcher sagt, er habe über die Bemühungen von Rübe „schmunzeln“ müssen. Er vermutet, sie hätten den Olympiasieger von Kopf bis Fuß mit „Bätschln“, kleinen Werbeaufnähern, zugekleistert. Kärcher hasst Patchwork und führt seine guten Kontakte ins Feld. Wenig später kommt die Nachricht, die in Erfurt wie eine Bombe einschlägt: Schumann wechselt zur LG Nike Berlin. Die Thüringer Öffentlichkeit wittert Landesverrat. Man irrlichtert. Der Leiter des Erfurter Olympiastützpunktes, Rolf Beilschmidt, will Schumann für die Nutzung der Sportanlagen sogar Gebühren berechnen.
HERPF. Ein Mann, der aus dem Dorf im Thüringer Wald kommt, ist am Boden zerstört: Dieter Hermann, Schumanns Trainer. Er befürchtet, sein Gesicht verloren zu haben. Dutzenden von Journalisten, Freunden, Politikern und Unternehmern hat er sein Wort drauf gegeben, dass „der Nils“ in Erfurt bleibt und weiterhin für den SV Creaton Großengottern startet. Als Schumanns Entscheidung durchsickert, sagt Hermann überraschend, er werde seinen Schützling weiter betreuen, egal welche Vereinsfarben er wählt. Was nun passiert, katalogisiert ein Erfurter Sportjournalist unter: „Der Gnatz der Wäldler“. Denen wird ein fest verwurzelter Starrsinn nachgesagt. Hermann kündigt die Zusammenarbeit auf. Begründung: Er selbst habe sich zu weit aus dem Fenster gelehnt.
BAD FRANKENHAUSEN. Schumanns Vater Peter übernimmt das Training, das unverändert in Erfurt stattfindet. Der Sportlehrer hat seinen Sohn schon vor dessen Wechsel nach Erfurt betreut – nach Plänen von Hermann, dem nachgesagt wird, er stehe fachlich im dritten Jahrtausend, sei menschlich aber ein Produkt des autoritären DDR-Systems. Kärcher, der Stuttgarter Sportvermarkter, vermutet ohnehin, dass sich die „Dickköpfe“, also Nils Schumann und Hermann, auf Dauer nicht vertragen hätten. Neue Situationen verlangten ein neues Umfeld. „Noch härter“ würde das Training, proklamiert Kärcher.
BERLIN. Im Dezember. Pressekonferenz. Schumanns Kontrakt mit der Verpackungsindustrie, genauer: dem „Aktionsforum Glasverpackung“, wird bekannt gegeben. Er verkörpere, heißt es, „die Eigenschaft von Glas: zuverlässig und ehrlich“. Aus dem Slogan: „Glas, eine ehrliche Haut“ wird „Nils, eine ehrliche Haut“. Eine höhere Millionensumme sei im Spiel, sagt Kärcher. Und: „In ganz Europa gibt es keinen Leichtathletik-Vertrag wie diesen.“
ERFURT. Schumann freut sich „wie noch nie“ über den Jubel der Thüringer beim Silvesterlauf in Erfurt; er genießt die Standingovation der Fans. Die Thüringer haben ihren Sohn wieder in die Arme geschlossen. Rühberg hingegen schreibt zähneknirschend an einer „Schlussrechnung“, die er seinem Exvertragspartner zusenden wird. Kärcher ärgert Rühberg („der hat die Größenordnungen nicht mehr übersehen“) und Hermann („den Hintern abputzen kann er sich auch selber“) und freut sich an den „einmaligen genetischen Eigenschaften“ seines Goldesels. Hermann sagt keinen Ton. Vater Schumann verspricht eine „härtere Gangart“. Der Sohn trainiert – wieder. Für einen Auftritt beim Hallenmeeting „Erfurt Indoor“ am 2. Februar reicht die Form freilich noch nicht. Alle Hallentermine werden abgesagt.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen