Vom Glück der blauen Galaxie

Wahre Lokale (55): das einem Fixstern gleich funkelnde „Vater und Sohn“ in Hannover

Wenn der sonst so warmherzige Wirt explodiert, zermahlt er Renitenzler zu Sternenstaub

„Jeder ist eine Insel“, behauptet ein alter Freund gern. Das ist ein schönes Bild. Trotzdem finde ich, die menschliche Existenz hat eher etwas Planetarisches. Mit Ringen um die Hüften und ein paar narbigen Monden in der Krone ellipsen wir am Nasenring der Schwerkraft einsam und eselig um die Sonne auf der Suche nach ein bisschen Wärme. Und man weiß nicht einmal, wozu das alles gut sein soll. Immerhin weiß man, wo man hingehört. Das ist in dieser unsteten Welt ja fast so etwas wie Glück.

Ich kreisele seit Jahren im Quadranten M 8 des Stadtplans von Hannover. Die Gegend ist berüchtigt für ihre Astralnebel und schwarzen Löcher. Sie tarnen sich als Friseursalons, Nagel- und Sonnenstudios, Lottoannahmestellen und Fahrschulen. Das Schlimmste ist ein indisches Restaurant. Dort verschwinden regelmäßig Köche. Bis heute vermisst man acht Inder, drei Vietnamnesen und zwei Ghanaer. Zuletzt brühte ein Tscheche den Basmatireis. Seit einer Woche ist auch er nicht mehr aufzufinden.

Mit anderen Worten: Es wäre in M 8 nicht auszuhalten, funkelte nicht an der Ecke Laves-/Warmbüchenstraße der Fixstern „Vater & Sohn“. Allerdings ist auch der Wirtsvater Guido Krüger längst in ein schwarzes Loch gefallen. Dem Sohn Aribert vererbte der Alte neben der Schanklizenz 36 Tonnen Sauerfleisch, eine Grünkohlplantage, zwei Bratkartoffelkeller, drei Schiffsladungen Hering und seine weiße Schürze. Aribert trägt das Erbe mit Würde, genau wie den gepflegten Schnauzbart. Sein Motto heißt: „Bitte nicht hetzen, wir sind bei der Arbeit und nicht auf der Flucht!“ Hält man sich daran, fließen Köpi, Herrenhäuser und Weihenstephan wie ein stiller, breiter Strom. Wenn nicht ... Nun sagen wir es so: Aribert wird ungemütlich. Dann hagelt es Lokalverbote. Wer je einen der seltenen Ausbrüche des warmherzigen Menschenfreundes erlebt hat, erzählt davon nur im Flüsterton. Es heißt, er könne wie eine explodierende Supernova aus der Küchendurchreiche fahren und Renitenzler zu Sternenstaub zermahlen.

„Das wird ein furrrrrchtbares Ende nehmen“, orakelt Hansen, der einmal dabei gewesen sein will. Das „R“ schmirgelt dabei durch seine Kehle, als wäre sie ein rostiges Abflussrohr. So ist es auch. Hansen, ein schrundiger, aber gutartiger Geselle, dessen Leberwerte „prrraktisch ga nich mehr errrfassbarrr“ sind, gibt sozusagen den Uranus im „Vater-und-Sohn-System“. Deshalb wettet die Stammkundschaft auch seit Jahren darauf, dass es vor allem mit Jansen furchtbar enden wird. Aber am nächsten Abend ahasvert er doch wieder Heine oder die Stones zitierend durch das Lokal. Dezent behütet, das heißt: ausgehalten von Richie, seinem freundlichen Konterpart. Richie ist kugelrund, der Gatte von Chefkellnerin Anne und das Humane in Persona. Leider ist er auch ein rechter Unglücksvogel. Weshalb er meist bandagiert auftritt.

Die Laufkundschaft nimmt das Lokalkolorit gelassen. Dafür sorgt Anne, das Herzstück der Wirtschaft. Der treuen Seele unterliegt das operative Geschäft. Sie bändigt Stammtische, Landespolitiker und andere Wichtigkeiten, die Ariberts exzellente Speisekarte abarbeiten, mit gleich bleibend milder Bestimmtheit. Und komplimentiert sie rechtzeitig hinaus, wenn Mitternacht naht, die blaue Stunde, zu der das „Vater und Sohn“ seine wahre Pracht entfaltet. Schlag zwölf kann man vor dem Tresen Essayisten erkennen, die funkelnde kleine Biere in Licht halten. Und wie von Zauberhand gelenkt, erscheint kometengleich ein Kurzdramatikerduo mit barockem Durst und Appetit, um mit noch barockeren Geschichten aus fernen Galaxien zu prunken. Ein Hamburger Dichter schaut herein und zeigt Interessierten gegen ein Gratispils das Foto seiner Braut, während ein Windhund vergeblich versucht, mittels hektografierter Kunstwerke seine Deckelschulden auszulösen. In ganz besonderen Nächten kann man ansonsten grimmige Schriftsteller zarte Kochrezepte singen hören, und eine Dichterin perlt dazu am Klavier in Moll. Dann weinen durchreisende Berliner Theaterkritiker und runde bayerische Künstlerinnen, weil es eine solche Schönheit bei ihnen zu Hause einfach nicht mehr gibt. Zum Trost spendiert Herr Krüger Wodka satt. In solchen Momenten begreife selbst ich, was es mit Heisenbergs Unschärferelation auf sich hat. Getreu dem Lessing’schen Wahlspruch: „Zu viel kann man wohl trinken, doch nie trinkt man genug.“

MICHAEL QUASTHOFF