: Erinnern und Zweifel säen
Gerd Stanges Gedenktafel für die von den Nazis deportierte Marie Beschütz wird in der Schule Schottmüllerstraße enthüllt ■ Von Petra Schellen
„Man kann doch die Überlebenden mit ihren Erinnerungen nicht allein lassen! Die sitzen irgendwo und haben ihre Bilder und Gedanken im Kopf und können sie niemandem erzählen!“ Der Hamburger Politbildhauer Gerd Stange sieht die Beschäftigung mit Opfern des Dritten Reiches – auch – als konkreten sozialen Akt: „Durch die Beschäftigung mit Marie Beschütz habe ich einen neuen Freund gewonnen: Marie Beschütz' Neffen Gert Beschütz, mit dem ich mich jetzt manchmal zum Kaffee treffe und mit dem ich Gedanken über Vergangenheit und Zukunft austausche.“
Dabei ist es keineswegs Kaffeekränzchen-Stoff, den der Neffe der 1882 geborenen, 1941 gemeinsam mit ihrer Schwester Olga nach Riga deportierten Jüdin Marie Beschütz zu bieten hat, die bis 1934 an der Schule Schottmüllerstraße unterrichtete und dort heute eine Gedenktafel bekommt. „Die Umbenennung der Schule Schottmüllerstraße in Marie-Beschütz-Schule wird auch noch in diesem Jahr stattfinden“, erzählt Stange, der durch sein Nachdenkmal in Groß Borstel Schlagzeilen machte. „Das Lehrerkollegium war sofort angetan von der Idee, hat sich aber Zeit auserbeten, um die SchülerInnen – es ist immerhin eine Grundschule – an das Thema heranzuführen.“ Dass man Kindern zwischen sechs und elf Jahren die Beschäftigung mit der Vergangenheit des derzeitigen Namenspatrons, des Arztes Hugo Schottmüller, der 1933 in die NSDAP eintrat, zumuten kann, glaubt Stange unbedingt: „In diesen Wochen sind immer mal wieder Schülergruppen bei Gert Beschütz zu Gast, und ich bin sicher, dass er ihnen das Schicksal seiner Tante zartfühlend nahe bringt.“
Erster offizieller Akt im Zuge der Umbenennung soll die Aufstellung der Gedenktafel sein: Schlicht ist die für den Treppenhaus-Eingang der Schule gedachte Tafel mit einem Siebdruck-Fotoporträt der Lehrerin auf einer Stahlplatte, unter die ein einfacher Eichenrahmen mit biographischen Daten montiert ist. Nichts ist ohne Symbolwert bei Stange, der gern mit „Fundstücken“ arbeitet: Aus einem Klavier stammt das Eichenholz, „und Marie Beschütz war eine begeisterte Klavierspielerin“, erzählt er.
Noch wichtiger sind ihm Orte: „Wir Menschen brauchen Orte, um unsere Gebete zu sprechen, Orte, um über Gedächtnis zu sprechen – und Orte, um uns zu erinnern“, sagt er. „An einem solch realen Ort kann man sich des Zusammenhangs von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft neu bewusst werden.“ Eine Konzentrationsleistung, die durch die Neuen Medien, so Stange, nicht gerade gefördert werde: „Internet und Fernsehen sind ja nicht nur uferlos manipulierbar, sondern auch fähig, das Hirn in seiner Funktionstüchtigkeit zu beeinträchtigen: Bei der schnellen Abfolge von Bildern habe ich gar nicht mehr die Zeit zum Nachdenken. Ich kann gar nicht alles aufnehmen und werde selbst so fahrig wie die Bilder.“
Deshalb brauche man Orte der Sammlung, auch Provokations-Orte wie das Nachdenkmal in Groß Bors-tel, das er durchaus als Konfronta-tion verstanden wissen will. „Zurzeit boykottieren es die Anwohner, indem sie es mit Müll zuschütten und beschmieren. Aber wenn es unbehelligt und unbeachtet in der Landschaft stünde, könnte man es genauso gut abbauen. Reibung ist Ursprung und Ziel dieses Mahnmals, und mit einigen der rechten Jugendlichen bin ich so weit ins Gespräch gekommen, dass sie mich zumindest akzeptieren.“ Ändern könne man die Grundhaltung dieser Jugendlichen vielleicht nicht, die Gleiches oft von den Eltern vorgelebt bekämen, wohl aber Zweifel säen.
Trotzdem – Materie ist für ihn wichtiger als Worte: „Eine Idee allein hilft nichts, auch wenn sie über etliche Röhren – zuerst Radio, jetzt Digitalleitungen – transportiert wird. Wichtig ist, Ideen mit den Händen umzusetzen, denn die Hände sind Teile der Seele“, sagt der Künstler. Man müsse die Idee materialisieren – durch Orte, Kunstwerke, Taten –, die Sinnesorgane ausnutzen, anders als die Virtualität des Internets, die so nicht mehr greifbar ist und deren Räume in sich ständig erweiternden und selbst reproduzierenden Dimensionen verschwinden. „Es ist wichtig, das ursprüngliche Tempo des Gehirns wieder herzustellen, auch und gerade durch Erinnerung – und dafür müssen Gedenktafeln wie die für Marie Beschütz aufgestellt werden.“ Dabei sei es gar nicht so wichtig, ob die Lehrerin mit ihren Kindern nun staunend durch Hamburg ginge, um ihnen schöne Torbögen zu zeigen oder ob sie ihnen Kuchen mitbrächte: Dies sind vielleicht unbedeutende, je nach Perspektive sentimental erscheinende Details. Wichtig sei es, beispielhaft Schicksale vorzustellen und Menschen – vielleicht nur einen Hauch lang – zum Innehalten zu veranlassen.
Gedenktafel-Enthüllung heute, 12 Uhr, Schule Schottmüllerstraße
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