: Familie kann Verstopfung machen
International ist das Renommée groß, doch auf der Berlinale wirkt das Kinderfilmfest noch immer wie ein zu vernachlässigender Fremdkörper. Das ist dumm, denn die Quote guter Filme ist hier höher als im Wettbewerb
von THOMAS WINKLER
Das Kinderfilmfest der Berlinale ist zwar mittlerweile das bedeutendste seiner Art in der Welt, wirkt innerhalb des Festivals selbst aber mitunter immer noch wie ein Fremdkörper. Was durchaus ein Vorteil sein kann. Hier beherrschen anarchische Kinderhorden und nur halbwegs von Lehrerhand im Zaum gehaltene Klassenverbände die Szenerie – anstatt desillusionierter Filmarbeiter, halbmüder Journalisten und marktwirtschaftlich-zynischer Filmverleiher. Gerade die aber sollten sich einmal in den immer wieder als Kindergarten diffamierten Bereich des Festivals bemühen, denn die Trefferquote an guten Filmen ist hier größer als in anderen Sektionen.
Wenn das Kinderfilmfest heute in seine 24. Auflage geht, ist sogar erstmals seit Jahren der deutsche Beitrag tatsächlich sehenswert. „Der Mistkerl“ wurde zum Eröffnungsfilm gekürt. Andrea Katzenbergers Debut erzählt eine wohltuend alltägliche Geschichte aus den Zeiten der Patchwork-Familie: Pauline ist neun Jahre alt und beißt regelmäßig die Liebhaber ihrer Mutter weg. Mama gerät dann auch noch ausgerechnet an einen Motorradrocker, der von Familie Verstopfung bekommt. Die sich daraus ergebenden Verwirrungen und Verwicklungen hätte manch anderer Regisseur dankbar als Anlass für billige Lacher und Ausflüge ins Klamaukige genommen. Katzenberger erzählt zwar mit einem leicht spöttischen Humor, behandelt die Nöte und Konfliktsituationen der Akteure aber stets mit mitfühlendem Respekt und wagt es, auch einmal traurig oder romantisch zu werden. Das Unglaublichste aber ist: Die Kinder sprechen tatsächlich wie echte Kinder und nicht wie Drehbuchautoren nach dem Studium eines Jahrgangs „Bravo“ glauben, dass Gören sprechen.
Trotzdem: „Der Mistkerl“ ist von 14 langen Beiträgen der einzige deutsche und das hat seine Gründe. Die Reputation des Kinderfilms hierzulande ist immer noch unterirdisch. Verleiher sehen keinen Markt, Schauspieler und vor allem Regisseure wollen nicht auf ein Image als Kinder-filmer festgelegt werden. So bleibt das Genre in Deutschland zu einem nicht unwesentlichen Teil zweitklassigen Akteuren vorbehalten – oder dem Nachwuchs. Wenn der durchschnittlich allerdings so talentiert sein sollte, wie es Katzenberger offensichtlich ist, droht dem deutschen Kinderfilm eine grundsätzliche Aufwertung.
Solche Probleme gibt es in Skandinavien traditionell nicht. Dort verfilmen immer wieder auch bereits etablierte Regisseure Stoffe für Kinder. Förderung und Akzeptanz sind seit Jahrzehnten auf hohem Niveau. So finden sich zwei dänische Filme im Programm und die isländisch-norwegisch-dänische Koproduktion „Ikingut“, in der ein Eskimojunge eines Tages auf einem Eisberg sitzend in Island landet und ein Dorf in Aufruhr stürzt.
Immer wiederkehrendes, unvermeidliches Thema von Kinderfilmen sind die ersten Schritte zum Erwachsenwerden und die einhergehende Verwirrung, so im japanischen „Nagisa“, der die Geschichte seiner titelgebenden 12-jährigen Heldin in den 60er-Jahre ansiedelt. Dort kann die Pupertät während der langen Sommerferien noch ungestört mit all ihren altmodischen Problemen beginnen, ohne durch allzu große Aufgeklärtheit torpediert zu werden. Eine körperliche Kontaktaufnahme zum anderen Geschlecht bleibt doch interessanter als ein Computer-Chat – zumindest filmisch.
Ähnliche Probleme bei grundsätzlich anderen Voraussetzungen plagen den Protagonisten von „Mirakel“. Dennies Peterson nennt sich wie ein Rapper Dennis P., trägt jederzeit HipHop-Mützen, fährt Skateboard, erwartet sehnsüchtig das erste Schamhaar, vermißt den verstorbenen Vater und wird von seinem Lehrer „mein Lieblings-Zurückgebliebener“ genannt. Erste Liebe, der erste Ärger mit der Mutter und die Frage, ob man wirklich sein Leben lang der beste Kumpel des besten Kumpels bleiben muss, werden locker-flockig inszeniert. Ein ernsthafter Umgang mit den Problemen der Pupertät ist sicherlich nicht die Stärke des Films, dafür aber sind die Tagträume von Dennis als Musical-sequenzen so gelungen überspitzt inszeniert, dass John Waters seine grellbunte Freude hätte.
Das Gegenteil ist „Zeit der trunkenen Pferde“ von Bahman Ghobadi. Der iranische Beitrag ist eine Konstante des Kinderfilmfestes in den letzten Jahren. Die Regisseure mögen wechseln, die existenziellen Thematiken und der rüde, authentische Stil aber bleiben ähnlich. Auch diesmal werden wieder in beklemmenden, fast schon dokumentarischen Bildern die Armut und Ausweglosigkeit geschildert, in der Kinder im Iran aufwachsen. Die Geschichte der fünf kurdischen Geschwister, die sich ohne Eltern als Schmuggler im verschneiten iranisch-irakischen Grenzgebiet durchschlagen müssen, ist nicht nur zu Tränen rührend in einem rührseligen Sinne, sondern so pessimistisch und der Realität verpflichtet, dass die Empfehlung ab 12 Jahre fast noch zu niedrig angesetzt ist. Die Traurigkeit in den Augen der Laiendarsteller, die ihr eigenes Dasein auf die Leinwand bringen, ist kaum auszuhalten. Eine filmische Klage mit solcher Kraft würde man sich bisweilen auch im Wettbewerb wünschen. Da aber „Zeit der trunkenen Pferde“ bereits auf anderen Festivals gelaufen ist, so zuletzt in Rotterdam, bleibt für Berlin aufgrund der Richtlinien nur ein Platz im Kinderfilmfest.
Ausführliche Informationen und Rezensionen und von Kindern geschriebene aktuelle Kritiken gibt es unter www.kindercampus.de
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