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Braindrain im Genpool

von DIRK KNIPPHALS

Genügend Chuzpe vorausgesetzt, aber die hat er ja, könnte Frank Schirrmacher diese Personalie sogar als Erfolg verkaufen. Dem Herausgeber der Frankfurter Allgemeinen Zeitung ist es immerhin anzurechnen, dass seine Redaktion sich derzeit als unerschöpfliches Wachstumsreservoir für die Konkurrenz erweist – wenn man denn so will, als Genpool fürs deutsche Feuilleton.

Die Kulturseiten der Zeit werden von Jens Jessen verantwortet, der vor gut fünf Jahren im Streit mit Schirrmacher von der FAZ schied. Stephan Speicher, der mitging, ist inzwischen Kulturchef der Berliner Zeitung. Konrad Adam, viele Jahren eine tragende Säule des FAZ-Feuilletons, wirkt bei der Welt. Und nun werden also Ulrich Raulff, noch Feuilletonchef des Frankfurter Hauses, und Thomas Steinfeld, noch Literaturchef dortselbst, ihren Wirkungskreis nach München verlegen; mit den prominenten Neuzugängen verstärkt die Süddeutsche Zeitung ihren Kulturteil. Schirrmacher ist es gelungen, dass im Prinzip alle deutschen Zeitungen von der soliden Ausbildung bei der FAZ profitieren. Nur die FAZ profitiert, wie es aussieht, davon nicht mehr so recht.

Bei Licht besehen ist die erfolgreiche Abwerbung der Führungsriege ihres Feuilletons durch die Konkurrenz aber natürlich ein Desaster für die FAZ. Traditionell streiten sich beide Häuser um die Meinungsführerschaft. Daher ist kaum anzunehmen, dass die Frankfurter die nötige Gelassenheit aufbringen, um den Coup bewundern zu können, der ihren Münchner Kollegen da gelungen ist. Dabei war, was SZ-Chefredakteur Hans Werner Kilz hier hinlegte, keine geringe Leistung.

Allein schon, dass es trotz des engmaschig geknüpften Informantensystems Schirrmachers gelungen ist, die Verhandlungen geheim zu halten, wird nicht ganz einfach gewesen sein. Offenbar hat es geklappt. Vom Weggang ihres Führungspersonals hörten die Frankfurter Kollegen inklusive der Herausgeberschaft erst kurz bevor die SZ den perfekten Deal schon stolz auf ihrer ersten Seite vermeldete. Das Verhalten Raulffs und Steinfelds nicht als Affront zu bezeichnen ist im Grunde unmöglich.

Was ist vorgefallen? Konrad Adam war gegangen, weil ihm die ganze von Schirrmacher auf Genomberichterstattung und Wissenschaftsfeuilleton gewendete Richtung nicht mehr passte. Die Neuausrichtung des Blattes bildet auch bei Raulff den Hintergrund. In der Branche ist es ein offenes Geheimnis, dass er seinem umtriebigen und sprunghaften Herausgeber Schirrmacher zunehmend skeptisch gegenüberstand; zudem behinderte die ausufernde Wissenschaftsberichterstattung inzwischen den sonstigen Feuilletonbetrieb.

Das Verhältnis von Schirrmacher und Steinfeld gilt schon seit längerem als zerrüttet. Den endgültigen Bruch brachte hier wohl die Beschäftigung mit Michael Kumpfmüllers Roman „Hampels Fluchten“ im vergangenen Sommer. An dem von ihm selbst installierten Literaturchef vorbei gab Schirrmacher eine positive Besprechung in Auftrag. Steinfeld konnte sie, obwohl anderer Meinung, nicht verhindern. Nur ein Pro und Contra konnte er noch durchsetzen. Seiner Autorität innerhalb der Redaktion hat das nicht gutgetan. Für ihn ist der Schritt wohl nichts Geringeres als ein Befreiungsschlag: Hauptsache, weg aus Frankfurt.

Frank Schirrmachers Position wird durch die neuen Entwicklung keineswegs gestärkt. Bevor er Herausgeber wurde, dachten FAZ-Redakteure erst nach ihrer Pensionierung über eine andere Tätigkeit nach. Nun herrscht in der Frankfurter Adresse Hellerhofstraße 3–4 ein reges Kommen und Gehen. Vor allem erst einmal ein Gehen. Es herrscht schlechte Stimmung im Wissenschaftsfeuilleton.

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