die stimme der kritik: Betr.: Jahrgang 1956 und älter
Elektrobriefe und Seniorensurfen mit Amerika auf der Linie
Mit zunehmendem Alter wächst die Sensibilität fürs Älterwerden. Bzw. fürs Ältergehaltenwerden. Oder fürs Ältergenommenwerden. Das gilt in allen Lebensstufen: Man weiß, dass sich 14-Jährige nie an eine erfahrene 17-Jährige ranwagen würden. Wir haben gelernt, dass man mit 29 an der Schranke zu jenem Restalter steht, wo keinem mehr getraut werden kann. Man hört sogar, dass das Stammpublikum in der Disko Mittdreißiger verhöhnt: „Jetzt kommen schon welche zum Sterben her.“ Und wer die 40 überschreitet, kann den Mathematiker seines Vertrauens ausrechnen lassen, an welchem Tag genau er sein statistisches Lebensbergfest erreicht.
Wann beginnt Alter wirklich? Die Euphemisten kennen die jungen Alten. Der Vorsenioren. Die Generation 50 +. TV-werbetechnisch ist man mit 50 vergreist, denn Quote will nur mit 14- bis 49-jährigen Shopping-Junkies gemacht sein. Der Rest kauft höchstens Kukident und guckt ZDF. Sprachschulen bieten die „Master Class“ auch für Anfänger, denn Master sind nicht die Könner, sondern der graue Schrott ab 50. In den USA spotten sie schon von den Junior Angels.
Jetzt hat America Online die Uhr noch ein Stück zurückgedreht. Mitgliederbefragung steht da auf dem Internet-Portal von AOL, für „Jahrgang 56 und älter“. 56 – das bin ich doch! Man plane „einen eigenen Bereich für Junggebliebene“. Was man sich so wünsche? Klickweise geht es durch die Umfrage; bald wird schon vom „Bereich für ältere Mitglieder“ gesprochen. Mit 44!!! Welchen Namen man passend fände? „Im besten Alter? Best Age? Zeitlos? Graue Surfer?“
Schließlich: Ob man als vortoter virtueller Wellenreiter Interesse an „Online-Bekanntschaften“ habe. Wie neckisch jugendliche Bah-Begriffe wie Chat-Room und Cyber-Flirt ausgespart werden. Bald darf man mit Amerika auf der Linie Elektrobriefe schreiben, in der Demenzenschutzzone AOL LAGO (last generation online) oder AOL LOGO (lost generation outsourced). Alzheimer goes Internet. Von der Heimatseite in die Neuigkeitengruppen.
Kann die Generation 57 und jünger meine Qualen verstehen? Bald werden Kinderpsychologen herausfinden, dass Säuglinge lauffähige Einjährige nachweislich für Frühgrufties halten. Und bald wird auch erstmalig einer aus dieser so unverständlichen Jugend-generation zu mir sagen: „Ey, mach mal Platz, Opa.“ Vorher wird AOL gekündigt.
BERND MÜLLENDER SEN.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen