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Büchner-Magical

■ Das Berliner Orphtheater gastierte mit einer sehr bleichen Woyzeck-Interpretation im Jungen Theater c/o Güterbahnhof

Als es darauf ankam, flog er nicht, der erste Stein. Seit jener altbekannten Episode ist uns irdischem Bodenpersonal ziemlich klar, dass man im Menschlichen nicht weit kommt, wenn man ausgerechnet dort die Unschuld sucht. Allenfalls für die Kinder soll noch gelten, was kein gestandenes Menschenkind mehr für sich reklamieren kann: ohne Schuld zu sein. Kind aber ist man nur kurze Zeit, den Rest des langen Daseins muss man sich als armer Woyzeck, zarte Marie, eitler Tambourmajor, zynischer Hauptmann oder irrer Doktor durchschlagen, was laut Georg Büchner kein Zuckerschlecken ist. Doch eben jener kurze Lebensaugenblick, den der Dramatiker Büchner uns verschweigt, ist für das Ensemble des Ostberliner Orphtheaters der Anfang allen sinnlosen Hoffens auf Erlösung: die Kindheit.

Sechs bleiche Gestalten, fötal gekrümmt, liegen auf der Bühne des Jungen Theaters im Güterbahnhof. Ein kurzes Spiel beginnt, viel Geschrei, wir hören Kindermelodie, fühlen uns gut, stehen auf Berlin. Am langen Rockzipfel der Großmutter (Roswitha Kreil) endet schon kurz darauf das bunte Treiben in einer grausamen Märchenerzählung – kurz darauf ist der Woyzeck (Uwe Schmieder) geboren, ein bleich geschminkter Geselle mit traurigen Augen, der bis zum finalen Mord an Marie (Antje Görner) seinen Kinderranzen auf dem Rücken trägt.

Regisseurin Susanne Truckenbrodt tunkt das Drama um den tumben Soldaten Woyzeck in unschuldigstes blütenweiß. Ein großes, locker an den Wänden befestigtes Laken überspannt die Bühne. Aus zahlreichen Schlitzen entschlüpfen immer wieder Büchners vom Kopf bis zu den Schuhen gebleichte Geschöpfe und erzählen mit rot geschminkten Mündern die Tragödie einer gescheiterten Existenz.

Truckenbrodts Woyzeck aber ist weit davon entfernt, ein Opfer anonymer Verhältnisse zu sein. Uwe Schmieder gibt den Woyzeck als von Menschen und Dämonen gehetzte Kreatur, mit irrem Blick, der von Abgründen weiß, in die kein Mensch schadlos hinab steigt. Weitaus mehr als zum Leidtragenden seines sozialen Umfelds wird Woyzeck hier zum Spielball dunkler Mächte, die in seinem Innersten wüten. Natürlich, der Doktor (Matthias Horn), der Tambourmajor (Wolf Scheidt) und der Hauptmann (Dieter Kölsch) versündigen sich auch in der Inszenierung des Orphtheaters an diesem guten, dummen Menschen. Doch dominiert der Eindruck, dass uns hier vor allem ein heillos entwurzeltes Individuum präsentiert wird, das in einer alptraumhaften Reise durch die eigene Psyche vergeblich nach festem Boden unter den Füßen sucht.

Kurzum: Kein wirklich neuer Zugriff auf den Woyzeck-Stoff, der daran krankt, dass die Charakterisierungen der jeweiligen Figuren eher schematisch als tiefgründig ausgefallen sind. Woyzeck & Co geraten hier immer wieder zur These, der es an Belegen mangelt. Diese Unentschlossenheit zeigt sich punktuell auch in der Inszenierungsform: Zwischen Psychogramm und Commedia dell'arte springt das Stück oft hin und her, reiht komödiantisches Jahrmarktspiel an klaustrophobes Kammerspiel. Beides bewältigen die SchauspielerInnen souverän – ohne dass das Konzept dadurch überzeugender wird. Dass der Abend dennoch weit davon entfernt ist, zum Ärgernis zu werden, ist dem tollen Ensemble des Orphtheaters zu verdanken. Vor allem die männlichen Akteure mit einem ganz wunderbaren Dieter Kölsch an der Spitze machen das Bühnengeschehen zu einem Ereignis. Franco Zotta

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