: Bulldozerliebe in Barcelona
Baugrubenbeobachtung statt Kino der Vergangenheit: „Anita no perd el tren“ von Ventura Pons (Panorama) meidet den Kulturpessimismus und wendet sich ins Groteske
Anitas Leben ist das Kino. 50 Jahre ist sie alt, und mehr als 30 davon hat sie im Kassenhäuschen eines Stadtteilkinos in Barcelona verbracht. Sie hat das Kino der großen Illusionen erlebt und dessen Niedergang betrauert, sie hat dem Aufstieg der B-Movies zusehen müssen und später dem des experimentellen Films. Wenn sie verliebt ist, träumt sie sich in „Königin Christine“ hinein. Dann sieht sie Greta Garbo zum Verwechseln ähnlich. Doch eines Tages findet ihre überschaubare Existenz ein Ende: Das Stadtteilkino ist abgerissen, die Baugrube für ein Multiplex schon ausgehoben, und im neuen Kino ist kein Platz für eine 50-Jährige. Der Chef schickt sie in den Vorruhestand, zwei Teenager übernehmen ihre Arbeit.
Der katalanische Regisseur Ventura Pons könnte es sich leicht machen mit „Anita no perd el tren“: Eine kulturpessimistische Klage hätte er anstimmen können: Seht, hier stirbt das alte, große Kino, und mit ihm wird eine Frau ausgemustert wie ein Kleidungsstück. Aber Pons hatte offenbar etwas anderes vor: „Anita no perd el tren“ ist ein leichter Film über das Älterwerden geworden, über das Begehren einer 50-Jährigen, das keinen Platz in der Ökonomie der Wünsche und Sehnsüchte hat, über das Verhältnis von Resignation und Lebensfreude. Das macht „Anita no perd el tren“ zu einem Film, wie man sie von Ventura Pons kennt: nicht spektakulär, aber schön beobachtet und mit Liebe zu den Figuren inszeniert.
Statt sich in den Vorruhestand zurückzuziehen, geht Anita Tag für Tag zu der Baustelle. Anfangs späht sie durch die Absperrung, ein illegitimer Blick fällt auf die Bauarbeiter und deren Körper – und vor allem auf den Bulldozerfahrer Antoni (José Coronado). Durch einen Zufall bekommt sie einen Logenplatz und darf fortan die Bauarbeiten aus nächster Nähe betrachten, als wäre sie Zuschauerin in dem Kino, das bis vor kurzem noch an dieser Stelle stand. Antoni erwidert die Zuneigung, die beiden haben ein leidenschaftliches Verhältnis, das, weil der Bulldozerfahrer ein verheirateter Mann ist, die Grenzen des Erlaubten überschreitet.
Ventura Pons inszeniert mit leichter Hand, unaufgeregt. Er zitiert die Konventionen des Melodrams, die heimlichen Blicke, das verbotene Begehren, die indirekten, gespiegelten Bilder. Ganz ernst nimmt er sie nicht. Was immer ins Düstere kippen könnte, wird mit dem hellen Tageslicht Barcelonas konfrontiert. Gelegentliche Wendungen ins Groteske brechen diesen feinen Rhythmus zwar auf, auch führt die große Nähe zum Theater, die Pons in allen seinen Filmen herstellt, in die Irre. Wenn sich Anita in diversen Asides aus der Handlung ausschaltet und direkt ans Publikum wendet, vermag der Kunstgriff nicht zu überzeugen. Dennoch ist bemerkenswert, wie nah „Anita no perd el tren“ den Sorgen der 50-Jährigen kommt und wie ernst der Film seine Protagonistin nimmt. Mit Rosa Maria Sardà hat Pons zudem eine Darstellerin gefunden, die der Figur genau die Glaubwürdigkeit und Tiefe verleiht, die sie verdient. CRISTINA NORD
„Anita no perd el tren“, Regie: Ventura Pons. Mit Rosa Maria Sardà, José Coronado, Katalanisch, 90 Minuten
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen