: In die Geschichte zurück
Martin Crimps „Auf dem Land“ unter der Regie von Dieter Giesing in Bochum
Sie wolle seine Kinder sehen, sagt Rebecca, sie könne ihnen eine Geschichte erzählen. Aber Richard lässt sie nicht. Ihn stört es, dass seine Geliebte bei ihm zu Hause ist. Sie gehört da nicht hin, schon gar nicht zu den Kindern: „Sie wollen keine Geschichte hören.“ Eine hilflose Behauptung. Denn: „Das will doch jeder.“ Der Bühnenraum stimmt Rebecca zu: Er leuchtet sanft blau auf.
Auch Martin Crimp scheint seiner Figur Recht zu geben. Mit „Auf dem Land“ ist er zum Erzählen zurückgekehrt. Sein jüngstes Stück bietet eine klare Geschichte – genau das, was „Angriffe auf Anne“, der Text, der den Briten in Deutschland bekannt gemacht hat, verweigerte. Die „Angriffe“ waren eine Sammlung herrenloser Stimmen – Nachrichten auf einem Anrufbeantworter, Dialogfragmente, Songs. Wer eine Geschichte wollte, musste sie selbst zusammenbauen.
„Auf dem Land“ hingegen lässt sich ohne große Anstrengung als Geschichte einer Untreue lesen. Eines Abends bringt der Arzt Richard eine junge Frau mit nach Hause, seine Geliebte Rebecca, die sich von einem heftigen Rausch erholen muss. Seiner Frau Corinne erklärt er, er kenne das Mädchen nicht, habe es bewusstlos am Straßenrand gefunden. Doch Corinne bekommt die Wahrheit heraus und kann sie nicht verwinden.
So weit das Ehedrama – sehr menschlich und nicht sehr originell. Die Stärken des Stücks liegen woanders. Es erzählt nicht nur, sondern reflektiert auch – über die Unausweichlichkeit des Erzählens. Das Arztehepaar möchte seiner Geschichte entkommen, ist deshalb aufs Land gezogen. Besonders Corinne möchte alles vergessen: die Stadt und vergangene Probleme mit ihrem Mann. Aber was sie findet, ist Geschichte in jeder Form: Narration, Historie, Biografie. Erst erinnert Morris, Richards Kollege, mit Vergil-Zitaten an die lange Tradition des Ideals vom Landleben. Und dann kommt eben Rebecca, eine Geschichtsstudentin, die sich durch nichts am Erzählen hindern lässt.
Was „Auf dem Land“ außerdem interessant macht, ist die präzise Form der Dialoge. Die logische Struktur eines Wortwechsels verrät oft mehr als seine wörtliche Bedeutung. Was gesagt wird, ist weniger wichtig als die Art, wie eine Figur der anderen ausweicht oder widerspricht. Die Flucht vor der Geschichte findet ihre Entsprechung: in dem hoffnungslosen Versuch, die Erzählung durch Widerrede zu stoppen. „Du bist nicht hier“, sagt Richard zu Rebecca. Die Wortgefechte sind anstrengend, nicht so eingängig wie die Narration.
Aber Dieter Giesing lässt sich in seiner Bochumer Inszenierung, der deutschsprachigen Erstaufführung, auf die Form der Dialoge ein. In der ersten Szene, als Rebecca noch ein anonymes Unfallopfer sein könnte, sprechen Johanna Gastdorf als Corinne und Burghart Klaußner als Richard fast mechanisch, mit wenig Pausen und Betonungen – sie weben an der Oberfläche der Normalität. Aber die ist bald durchbrochen, die Kämpfe beginnen. Etwa zwischen Corinne und Rebecca (Bianca Nele Rosetz): Schwärmt die eine vom Land, redet die andere von der Stadt. Viermal fragt Rebecca nach dem Weg in die Küche, nur um der Rivalin ein Wort abzutrotzen: „Da? – Ja. – Vielen Dank.“ Zufrieden geht Rebecca ab. Sie hat ihre Diskurshoheit behauptet. Sie ist nicht nur die Botin der Geschichte, sondern beherrscht auch die feinen Formen des Dialogs. Das muss sie von ihrem Autor haben. MORTEN KANSTEINER
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