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Knirpse im Genuniversum

von MATTHIAS URBACH

So haben wir uns die Wissenschaft nicht vorgestellt. Über ein halbes Jahr nach der gemeinsamen Pressekonferenz der konkurrierenden Wissenschaftlerteams, auf der es hieß, das menschliche Genom sei „entschlüsselt“, kommen endlich die richtigen wissenschaftlichen Veröffentlichungen in den beiden renommiertesten Wissenschaftsmagazinen Nature und Science. Und immer noch nicht wissen die Forscher genau, wie viel Gene sie denn nun eigentlich im menschlichen Erbgut entdeckt haben.

26.588 habe er sicher entschlüsselt, sagt der Unternehmer Craig Venter, dessen Firma Celera Genomics mit dem Erbgut das große Geld machen möchte. Dazu kämen 12.000 mögliche weitere Gene. Francis Collins, Direktor der amerikanischen Abteilung des Human Genome Project (HGP), in dem Wissenschaftler aus den USA, Großbritannien, Deutschland, Japan, China und Frankreich vereinigt sind, spricht von 30.000 bis 35.000 Genen. Wie viele denn nun?

Als am 26. Juni 2000 Collins und Venter gemeinsam mit dem damaligen US-Präsidenten Bill Clinton im Weißen Haus die Entschlüsselung verkündeten, war jeweils gerade erst die „rohe Arbeitsfassung“ fertig. In keinem anderen Feld sonst würde sich ein Forscher trauen, quasi nur mit seinen Laborbüchern in der Hand vor die Presse zu treten. Das, was gemeinhin in der Wissenschaft diskutiert wird, sind fertige schriftliche Ausführungen, von anderen Wissenschaftlern gegengelesen und auf ihre Richtigkeit – oder zumindest Stimmigkeit – überprüft.

Das wird am Donnerstag und Freitag endgültig nachgeholt werden. Dann erscheinen die Daten des HGP auf 62 eng bedruckten Seiten im britischen Journal Nature und am Tag darauf – falls es die Veröffentlichung nicht noch einen Tag vorzieht – die Daten Venters auf 48 Seiten im amerkanischen Pendant Science. Während also diese Woche erstmals eine seriöse Veröffentlichung über das menschliche Erbgut zu Stande kommt, diskutiert die Gesellschaft schon beinahe ein Jahr lang alle möglichen Auswirkungen dieses Ergebnisses. Die FAZ räumt seit Monaten so viel Platz für die Science-Fiction-Fantasien diverser US-Forscher frei, dass es schon einige mit altehrwürdigen Feuilletonthemen Beschäftigte aus der Redaktion trieb. Und an den Frühstückstischen der Nation wird morgens diskutiert über Designerbabys und Affen mit Quallengenen.

Wir haben uns schon so sehr daran gewöhnt, wissenschaftlichen Neuerungen hinterherzuhinken, dass dieses Mal keinem auffällt, wie sehr die Debatte der Wissenschaft vorgreift. Der Vergleich der Sequenzierung des Erbguts mit der Mondlandung ist keine Übertreibung. Die hatte wissenschaftlich nur begrenzt Bedeutung. Die Fantasie der Gesellschaft aber wurde auf Jahrzehnte beflügelt von diesem Triumph der Moderne.

Noch sind sich die Forscher nicht einmal über die Zahl der entdeckten Gene in den Buchstaben des Lebens sicher. Das Erbgut besteht aus Nukleotiden mit vier verschiedenen Basen – Cytosin (C), Guanin (G), Adenin (A) und Thymin (T) –, die sich wie Buchstaben in einem Text abwechseln. Mehr als drei Milliarden Buchstaben insgesamt. Würde man das zusammengeknäulte Erbgut auseinander ziehen, wäre es immerhin vier Meter lang. Die Wörter des Lebens sind die Gene. Aber ihre Zahl ist noch immer nicht klar. Und weil die Methoden, mit denen die beiden Gruppen das Erbgut um die Wette analysiert haben, dazu neigen, eher zu viel als zu wenig Gene anzuzeigen, rechnen Beobachter mit einer Zahl am unteren Ende. Also vielleicht 30.000.

Das wäre aber enttäuschend. 30.000 sind nur die Hälfte mehr als ein Spulwurm, zweimal so viel wie in einer Fruchtfliege. „Und nur 300 mehr als in einer Maus“, erklärt Craig Venter. Und gegenüber BBC lieferte er gleich eine Interpretation: „Wir sind nicht fest verdrahtet.“ Sprich: Die Gene sind nicht alles. Die Umwelt hat auf den Menschen einen stark prägenden Einfluss. Auch für die katholische Kirche und die populäre Debatte wird so ein empfindlich geringer Unterschied zur Labormaus Stoff für neue Debatten liefern, wie auch die neue Erkenntnis des HGP, dass 113 der entdeckten Gene identisch mit denen von Bakterien sind. Für wie bedeutsam die Medien inzwischen solche Befunde halten, illustriert die britische Zeitung Observer. Sie hielt sich nicht an die international ausgegebene Sperrfrist und veröffentlichte gestern vorab. Science und Nature, die die Journalisten mit Voraberklärungen zum besseren Verständnis beliefern, werden den Observer künftig nicht mehr informieren.

Nach außen schüren die Forscher diese Hysterie, stellen das bald mögliche Ende vieler Krankheiten wie Diabetes oder Krebs in Aussicht und geben sich gewiss in der Interpretation ihrer Ergebnisse. In ihren Veröffentlichungen in Nature und Science sind sie meist – wissenschaftlich – bescheiden. „Im Prinzip beinhaltet die Kette der Genstücke lang gesuchte Geheimnisse der menschlichen Entwicklung, Physiologie und Medizin“, schreiben die HGP-Forscher in Nature. „In der Praxis bleibt unsere Fähigkeit, diese Kenntnis in ein wirkliches Verstehen zu verwandeln, schmerzhaft unangemessen.“ Und auch Craig Venter schreibt in Science: „Wir fühlen uns wie Knirpse, die das Universum beschreiben wollen.“ Wer diese Bekenntnisse liest, kann sich nur wundern, wie weit die gesellschaftliche Debatte über das technisch Mögliche hinausschießt.

Doch auch die Wissenschaft schmeißt angesichts der Kommerzialisierung der genetischen Grundlagenforschung durch Craig Venter einige ihrer Prinzipien über Bord. Eigentlich wollten beide Konkurrenten gleichzeitig in Science veröffentlichen. Doch Celera knüpfte die Veröffentlichung bei Science an Auflagen. Normalerweise ist es eherner Brauch in der Forschung, dass alle publizierten Daten frei verwendbar sind. Doch Venter weigerte sich, dies zu erlauben. Er möchte mit den Daten schließlich seine Investitionen wieder hereinholen und Geld verdienen. „Die Firma Celera will das Beste aus beiden Welten“, schimpft Michael Ashburner vom Europäischen Bioinformatik-Institut. „Sie will kommerzielle Vorteile und gleichzeitig den akademischen Ruhm.“ Trotzdem ließ sich Science darauf ein. Die Nature-Herausgeber betonen, dass dies bei ihnen nicht möglich gewesen wäre. Die zwanzig am Human Genome Project beteiligten Institute beschlossen daraufhin, bei Nature zu veröffentlichen. Anders als Venter hatten sie von Anfang an alle ihre Rohdaten 24 Stunden nach der Entdeckung ins Internet gestellt. Wegen dieses Unterschieds war eine wirkliche Zusammenarbeit von Celera und dem HGP von vornherein zum Scheitern verurteilt. Nun erschöpft sich die Gemeinsamkeit im Veröffentlichungstermin.

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