: Unbequem und gefährlich
Lesung heute Abend im Literaturhaus: Fritz Mieraus Biografie „Das Verschwinden des Franz Jung“ als überraschende, außergewöhnliche Ergänzung seines „Wegs nach unten“ ■ Von Roberto Ohrt
Relativ unbemerkt brachte die Edition Nautilus im Herbst '98 den letzten Band ihrer nun zwölfbändigen Ausgabe der Werke von Franz Jung auf den Markt. Zugleich erschien bei Nautilus Das Verschwinden von Franz Jung. Die von Fritz Mierau verfasste Lebensgeschichte ist nicht nur ein guter Schlüssel zu allen Schriften Jungs; sie ist selbst ein ausgezeichnet geschriebenes Stück Literatur – und eine Vertiefung dessen, was Jung mit seiner Autobiographie zwei Jahre vor seinem Tod vorgelegt hat.
Jungs Lebensbericht Der Weg nach unten, 1961 erstmals bei Luchterhand veröffentlicht und später ebenfalls unter dem von Jung bevorzugten Titel Der Torpedokäfer erschienen, ist ein Dokument aus dem Innern der sozialrevolutionären Bewegungen unseres Jahrhunderts: Dada, Spartakusaufstand, bewaffnete Bewegungen, Revolutionierungen im Theater und in der Literatur der 20er Jahre, aber auch Verfolgung nach '33, Widerstand im Krieg und die soziale Kälte der Nachkriegszeit. Der Weg nach unten lässt diese Ereignisse in unmittelbarer Nähe vorbeiziehen. Sie kommen manchmal auch als extreme Situationen ins Bild: Dadaist und Hochstapler Walter Serner kreuzt da beispielsweise nur mit Pelzmantel bekleidet auf; Jung zeigt sich in den Unruhen nach dem Ersten Weltkrieg einmal als unfreiwillig schlechter Redner, ein anderes Mal entkommt er dem Standrecht in einem Misthaufen.
Neben all dem nimmt da eine Geschichte ihren Lauf, die weiß, dass ihr Leben nicht im Glück ankommen soll. Es ist natürlich auch eine Geschichte, deren Erinnerungen eigentlich dazu bestimmt waren, von einem Hinrichtungskommando ausgelöscht zu werden. Jung konnte ihm entwischen. Vieles – besonders die so genannte Vergangenheitsbewältigung der Nazis – hätte sich ohne Jungs Stimme bequemer darstellen lassen.
Es gibt wohl niemanden, der so sehr in die Kämpfe dieses Jahrhunderts verwickelt war und sich zugleich die Möglichkeit bewahrte, schonungslos über sich und andere zu berichten, also weniger über die Schuld der Feinde als über die eigene und die der Freunde, und das war gefährlich. Jung zog die Linien seiner Kritik ohne Kalkulation der besten Lage für ihn selbst, ließ sich nie auf irgendeine, wie man dann sagt, verdiente Anerkennung ein.
Er war zum Beispiel einer der wichtigsten Kronzeugen des Dadaismus, aber man konnte ihn nicht dazu überreden, sich am Ende der 50er Jahre noch mal als Clown mit nicht mehr ganz so heißer Suppe, als abgestellte Referenz seiner selbst aufrufen zu lassen. Dass Jung beharrlich das Scheitern im Auge behielt, färbt seine Erzählung nicht gerade heiter und freundlich. Unbeschwertheit und Witz scheinen eigentümlich abwesend, waren aber – Mierau vermag diese Facetten der Person aus den Äußerungen derer, die ihn miterlebt haben, zurückzuholen – sie waren tatsächlich im Umgang mit ihm selbstverständlich. Überraschenderweise fügt Das Verschwinden von Franz Jung dem Weg nach unten noch etwas von seiner Außergewöhnlichkeit hinzu. Es gelingt Mierau, den unverkennbaren Beitrag von Franz Jung, seine zentrale Bedeutung im Dadaismus beispielsweise, genauer herauszustellen und zugleich gerade die Bedeutung seines sozialen Umfelds eindrucksvoll zu rekonstruieren. Jungs Verbundenheit mit der Frage, wie im Sozialen freiere Formen der Verständigung erreicht werden können, und seine Unbestechlichkeit gegenüber Initiativen, in denen das sozialrevolutionäre Projekt nicht vorangebracht wird, bilden den Kern der Darstellung.
Als wichtigste Situation findet Mierau hier in den ersten beiden Jahren des Ersten Weltkriegs einen „Kreis persönlich verbundener Leute“, die sich gegenseitig retteten, nicht nur aus dem Krieg, sondern überhaupt aus „Besitzansprüchen, sie seien die des Vaters, des Liebenden, des Staates, der Kirche oder der Ästhetik.“ Wenn Jung sich später einerseits unablässig in kollektiven Projekten bewegt, sie andererseits aber zunehmend durch seine „Unzuverlässigkeit“ stört, dann weil er sich immer noch den „Besitzansprüchen“ jeglicher Art entzog. Mierau benennt als ein zentrales Thema für Jung die Kritik des „Gemeinschaftsrausches“, der fatalen Freisetzung von Kräften, die „es den Berauschten erlauben, für einen Augenblick ihren Begrenzungen in Raum und Zeit zu entkommen. (...) Aber schon im nächsten Augenblick, der die Bewältigung der alltäglichen Gegebenheiten erfordert, verfliegt der Rausch, die Kräfte verbrauchen sich in einer Organisationsgroteske, die Versprechen sind nicht einzulösen, Gewalt füllt das Vakuum, Terror soll nun das erhoffte Glück erzwingen“.
Jung befasste sich also mit Mechanismen, die heute immer noch zu unserem Nachteil in Funktion sind. Sie sind wohl etwas anders zusammengebaut – anschaulicher und unanschaulicher zugleich – und man könnte sagen, auch ihre Analyse, wie zum Beispiel in Jungs Technik des Glücks, müsste heute anders geschrieben sein, aber man wird die Kritik aus seiner Sprache und seinen möglicherweise befremdenden Begriffen immer noch herausholen können, um sie gegen den herrschenden Rausch und die heutige Katerpolitik einzusetzen.
Fritz Mierau: Das Verschwinden des Franz Jung, Hamburg 1998, 336 Seiten, 58 Mark.
Lesung heute, 20 Uhr, Literaturhaus
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