Im Familienbunker

Unversöhnlich vom Missbrauch erzählt: Das 3001 zeigt Tim Roths The War Zone  ■ Von Urs Richter

Die Mutter ist schwanger, die Fruchtblase platzt, Wasser läuft ihre Beine hinunter. Auf der nächtlichen Fahrt zum Krankenhaus liegt ein Baumstamm quer über der Straße, der Wagen landet auf dem Dach. Der Vater und die pubertierenden Kinder – Bruder und Schwester – helfen dem fünften Familienmitglied dennoch gesund zur Welt. Eine furchtbare Welt: „Du treibst es mit Daddy, ich habe euch gesehen“, klagt der Bruder im Bett seiner Schwester und starrt ihr auf die nackte Brust. „Wenn du mir wehtun willst, nimm das, dann geht es dir vielleicht besser“, antwortet sie und nötigt ihn, mit einem Feuerzeug ihre Haut zu verbrennen.

„Komm, dreh dich um“, flüstert der Vater über seiner Tochter. „Ich bin doch kein Junge. Warum machst du es mir nicht wie bei Mutter“, fordert sie, bevor sie sich doch umdreht. Durch einen Mauerspalt beobachtet der Sohn die beiden und lässt die Videokamera mitlaufen.

„Wärst du eigentlich auch gerne mit einem anderen Mann als Daddy zusammen?“, sagt der Sohn zur Mutter. „Warum fragst du?“, möchte sie wissen und erschrickt beim Windelwechseln über die blutige Vagina ihres Säuglings.

The War Zone inszeniert den familiären Super-GAU. Das Nacherzählen von Szenen kann das Grauen nicht wiedergeben, aber vielleicht die Haltung des Filmes andeuten. Tim Roth (der Undercoverbulle aus Reservoir Dogs) entwirft in seinem Regiedebüt von 1999 das ausgesprochen ambivalente Psychogramm einer Familie, deren Mitglieder in einem Geflecht aus Inzest, Missbrauch, Eifersucht und Begehren unlösbar gefangen sind.

Ohne die Fragen nach Schuld und Nichtschuld je zu relativieren, zeichnet der Film ein komplexes Porträt jeder einzelnen Figur und lässt sehen, dass der Vater Vergewaltiger ist, aber auch umsorgender Patriarch. Dass die ältere Tochter Opfer ist, aber ebenso Konkurrentin der Mutter. Dass diese vieles ahnt, aber aus Feigheit schweigt. Den Sohn schließlich treibt nicht nur Zorn auf den Vater zur Vergeltungstat, sondern auch Eifersucht.

Dieser letzte Akt kann kein Befreiungsschlag sein. Der Film ist von Beginn an versiegelt gegen jedes Ausweichen vor der Katastrophe. Sein vermeintlicher Naturalismus bleibt stilistisches Werkzeug und fest umklammert von einem Fatalismus, der an antike Tragö-dien, Zolas Bauernromane oder die Filme Bressons erinnert. Hier wie dort ist die Geschlossenheit des Erzählraumes vorausgesetzt. The War Zone erzeugt solche Abgeschlossenheit, indem er seine Figuren vom Rest der Welt isoliert.

Die Familie wohnt in einem düs-teren Haus an einer stürmischen Küste Englands, hergezogen aus London. Warum sie so leben, wird nicht erklärt. Stattdessen sehen wir sie flüsternd in der dunklen Wohnküche ihre Katzenwäsche verrichten, einsam ungastliche Steinstrände entlang spazieren und in einem zugigen Bunker bei heimlichen, schnellen Zusammenkünften. Vieles wird aus der Perspektive des umherschleichenden Jungen be-obachtet, sein Blick ist keine moralische Instanz. Am Ende steht keine Lösung, nur ein Aufschub. Das Grauen wird sich wiederholen.

Tim Roths Unversöhnlichkeit ist umso beeindruckender, als dass der Tatort Familie seit einiger Zeit unübersehbare Mode geworden ist unter Nachwuchsfilmern. Modisch wird dann auch inszeniert: Thomas Vinterbergs Fest bleibt ein regressives TV-Melodram, das seinen Dokumentargestus instrumentalisiert. Todd Solonz' Happiness fordert in ungelenkem Zynismus zum Verlachen armer Wichser auf und Paul Thomas Anderson gibt Magnolia zumindest die abrundende Note spielerischen Kunsthandwerks.

Gegen diese Stilisierungen setzt Roth auf eine Interpretation, die mit konventionellen Mitteln und in ungebrochener Ernsthaftigkeit von der Zerstörung von Menschen durch Menschen erzählt. Nirgends sonst schärft sich das Thema so zu, wie zwischen Eltern und Kindern. The War Zone erzählt ohne ironische Hintertürchen, frei von komisch-wehleidiger Nabelschau, frei auch von einem beruhigenden Silberstreif am Horizont. Darin ist er ehrlicher als obengenannte Filme.

Der Einwand, der vorzubringen wäre, ist sozusagen ein Meta-Einwand und lautet: Die interessanteren Geschichten lassen sich allemal mit Figuren entwerfen, deren Handlungen Resultat einer Entscheidungsmöglichkeit sind, mit Figuren, die eine Wahl treffen können. Die Hermetik von The War Zone isoliert den Film auch vom Publikum.

Do, Fr, Mo - Mi, 18 Uhr, 3001