: Das Ende eines nationalen Symbols
Die russische Raumstation Mir war ein Produkt des Kalten Krieges. Lange Zeit mussten die westlichen Astronauten zuschauen, wie die Russen die erste Raumstation aus dem Baukasten im Weltall installierten. Mitte März wird die Ära Mir zu Ende gehen
von KENO VERSECK
Den Wunsch nach dem Ende der Mir haben sich die Amerikaner längst erfüllt. Die russische Raumstation explodierte schon vor drei Jahren – in dem Hollywood-Film „Armageddon“. Darin rettet Bruce Willis die Welt vor einem Asteroiden-Einschlag und folglich vor einer planetaren Apokalypse. „Armageddon“ zeigt die Mir als schrottreifes Gefährt und den letzten auf ihr übrig gebliebenen Kosmonauten als gefährlich-genialen Pfuscher, der aus der zu Bruch gehenden Raumstation ohne Schutzanzug in ein Space Shuttle flüchtet und dabei das Vakuum des Alls überlebt.
Weniger übertrieben-ironisch, aber in der Substanz gleich ist das Bild der Mir, das viele Medien und zahlreiche westliche Raumfahrtexperten seit langem pflegen. In Nachrichten sind Attribute wie „altersschwach“, „unfallträchtig“, oder „dauerdefekt“ fast Synonyme für die Mir geworden. Die Station weiter zu betreiben sei lebensgefährlich, lautet eines der Klischees, den Russen gehe es eigentlich nur noch ums nationale Prestige.
Nach dem jahrelangen Hin und Her über das Ende der Mir oder einen Weiterbetrieb soll die Raumstation nun Anfang März über dem Südpazifik kontrolliert abstürzen. Erste Manöver dafür haben russische Raumfahrtingenieure bereits im Januar unternommen. Vor allem die Nasa ist erleichtert über den Entschluss.
Dahinter verbirgt sich nicht so sehr das Entsetzen über die in der Tat zahlreichen Pannen auf der Mir, sondern mehr das bis heute fortwirkende Sowjet-Trauma der amerikanischen Raumfahrt. Während die Raumfahrtgeschichte im amerikanischen und häufig auch im westeuropäischen Bewusstsein mit John Glenn, dem ersten US-Astronauten, und der Mondlandung Neil Armstrongs beginnt, war es in der Realität bekanntlich die Sowjetunion, die 1957 den ersten Satelliten und 1961 den ersten Menschen, Juri Gagarin, ins All gebracht hatte.
Im Raumfahrt-Wettrennen der beiden Nationen spielte auch die Mir ein wichtige Rolle. Die Sowjetunion hatte in den sechziger Jahren nach katastrophalen technischen Fehlschlägen Pläne zur Landung eines Kosmonauten auf dem Mond aufgegeben und sich statt dessen auf den Bau von Raumstationen konzentriert. Seit 1971 kreisten die Stationen der russischen Saljut-Serie im All. Mit der Mir folgte 1986 die erste „Baukasten“-Raumstation – und geriet indirekt zu einem weiterem Nasa-Trauma. Den Basisblock schickten die Russen im Februar 1986 erfolgreich ins All. Der Nasa war knapp vier Wochen zuvor die Raumfähre Challenger kurz nach dem Start explodiert.
Die Mir ist bis heute die erste im All nach dem Baukastenprinzip fertig gestellte und funktionierende Raumstation. Sie hat sechs Module. Während der Basisblock als Kommando- und Kontrollzentrale sowie als Wohneinheit dient, sind die anderen Module wissenschaftliche Labore. Die letzten beiden Bausteine, „Spektr“ und „Priroda“, kamen erst 1995 und 1996 hinzu, als die ursprünglich veranschlagte Lebensdauer der Mir von sieben bis acht Jahren schon längst überschritten war.
Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion wandelte sich der „nationale Orbital-Komplex“, wie die Mir im Partei- und Bürokratenrussisch auch hieß, von einem Spätprodukt des Kalten Krieges in ein Objekt, dass seinem Namen – übersetzt heißt Mir Frieden – nun schon eher gerecht wurde: Die Mir diente von nun an als Studienobjekt und Trainingslager für die Internationale Raumstation (ISS). In dieser Rolle absolvierte die Mir gewissermaßen ihr längstes Experiment. Möglich wurde dies durch die finanziellen Engpässe Russlands.
Beim Shuttle-Mir-Programm (1994-1998), während dem die USA den größten Teil der Mir-Betriebskosten trugen, hatten US-Astronauten erstmals Gelegenheit, länger als zwei Wochen im All zu bleiben und Erfahrungen über Langzeitraumflüge zu sammeln – ein Gebiet, auf dem die russischen Kosmonauten noch immer mit Abstand führend sind.
In diese Zeit fiel auch die berüchtigte Pannenserie der Mir, vor allem im „Katastrophenjahr“ 1997. Im Februar 1997 schlug aus einem Sauerstoff-Generator eine Stichflamme, die die Besatzung nur mit Mühe löschen konnte. Im Juni des Jahres rammte ein Versorgungsschiff das Spektr-Modul und mehrere Solar-Module. Spektr musste abgeschottet werden, weil Luft daraus entwich. Wegen des Schadens an den Solar-Modulen und mangelnder Batteriekapazität fiel der Zentralcomputer periodisch aus – die Station trudelte steuerlos um die Erde.
Doch aus den Defekten und Pannen zogen Ingenieure auch Dutzende Detail-Lehren für die Konstruktion und Funktionsweise künftiger Raumstationen. Etwa: Klappen von Ausstiegsschleusen müssen sich nach innen öffnen, damit sie sicher schließen und es nicht zu einem Druckabfall kommt. US-Astronauten bewunderten ihrerseits immer wieder das Improvisationstalent ihrer russischen Kollegen auf der Raumstation, die nicht ausschließlich nach Plan und auf Anweisung der Bodenkontrolle arbeiteten wie bei Shuttle-Flügen.
Ein Modellversuch für künftige Raumstationen ist die Mir in den letzten 15 Jahren auch im Hinblick auf wissenschaftliche Experimente gewesen. Mit ihnen wurden zumeist die Auswirkungen der Mikrogravitation auf Kleinstlebewesen, Pflanzen, Tiere und Menschen untersucht. Daneben führten Mir-Besatzungen tausende Experimente in praktisch allen wichtigen Forschungs- und Technikbereichen durch – von der Erdbeobachtung bis zur Astrophysik, von der Biotechnologie bis zur Halbleitertechnik.
Die Station soll sich nach russischen Angaben durch die von Firmen aus aller Welt bezahlten Experimente amortisiert haben. Auf der nun wohl überflüssig gewordenen Warteliste sollen sogar noch immer zahlreiche Antragsteller stehen.
Aus Geldmangel ließ sich Russland zuletzt darauf ein, aus der Mir ein Weltraum-Hotel zu machen. Das internationale Firmenkonsortium MirCorp finanzierte letztes Jahr erstmals einen Raumflug vollständig privat. Während dieses Reparaturfluges zur Mir dichteten zwei Kosmonauten Haarrisse in der Außenhaut der Raumstation ab, so dass keine Luft mehr aus der Station entwich.
Doch für ihre Tourismus-Pläne konnte die MirCorp nicht genügend Interessenten finden, was den Betrieb der Raumstation gesichert hätte. Ein zweiwöchiger Urlaub im All sollte immerhin 20 Millionen Dollar kosten. Ende letzten Jahres entschied die russische Regierung deshalb, die Mir abstürzen zu lassen.
Für die Russen kommt nun nicht nur das bittere Ende der Mir, sondern auch ein bitterer Anfang auf der ISS. Sie besteht zwar derzeit noch mehrheitlich aus russischen Bauteilen. Doch weil die USA die Hauptgeldgeber der ISS sind, haben das Kommando bei ISS-Flügen US-Astronauten, obwohl sie weniger erfahren sind als ihre russischen Kollegen. Auch will die Nasa nun endlich den Schlusstrich unter die Mir ziehen: Vor Jahren lehnte sie es ab, die ISS in einen Mir-nahen Orbit zu bringen. Und sie entschied auch: Elf Tonnen wissenschaftlicher Geräte der Mir werden nicht zur ISS gebracht, sondern sollen mit der Station auf die Erde stürzen.
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